Shining
Herbstbräune zugelegt.
Er war in den Keller gegangen, um den Kesseldruck zu prüfen, und impulsiv hatte er die Taschenlampe vom Regal genommen und beschlossen, sich einige der alten Papiere anzusehen. Außerdem wollte er für das Aufstellen von Fallen geeignete Plätze suchen, obwohl er noch einen Monat Zeit hatte – sie müssen alle erst aus dem Urlaub zurück sein, hatte er Wendy gesagt.
Er richtete den Strahl der Lampe nach vorn und ging am Aufzugsschacht vorbei (auf Wendys Drängen hatten sie den Aufzug seit ihrer Ankunft nicht mehr benutzt). Dann betrat er den Kellerraum hinter dem kleinen steinernen Bogen. Unangenehm stieg ihm der Geruch von vermodertem Papier in die Nase. Hinter ihm sprang die Kesselanlage so laut an, dass er zusammenzuckte.
Er ließ den Lichtstrahl wandern und pfiff dabei durch die Zähne. Es sah aus wie die Anden im verkleinerten Maßstab: Dutzende von uralten Kartons und Kisten voller Papiere, die meisten vom Alter verblichen und feucht. Andere waren aufgerissen, und ihr vergilbter Inhalt lag auf dem Boden verstreut. Er sah mit Bindfaden verschnürte Stapel von Zeitungen. Einige Kisten enthielten Hauptbücher und sonstige Geschäftsunterlagen, andere gebündelte Rechnungen. Jack zog eine heraus und hielt sie vor seine Taschenlampe.
ROCKY MOUNTAINEXPRESS INC.
An: OVERLOOKHOTEL
Von: SIDEY’S WAREHOUSE, 1210 16th Street, Denver, CO.
Via: CANADIAN PACIFIC PR
Inhalt:400PAKETE DELSEY TOILETTENPAPIER
Gez. DBF Datum August 24,1954
Lächelnd ließ Jack das Papier in den Kasten zurückfallen.
Er leuchtete nach oben und sah eine von Spinnweben bedeckte Glühbirne, wenn er auch keinen Schalter finden konnte.
Er stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, die Birne festzudrehen. Sie leuchtete schwach auf. Er nahm die Toilettenpapierrechnung und reinigte die Birne notdürftig. Sehr viel heller wurde sie allerdings nicht.
Mit Hilfe der Taschenlampe überprüfte er die Kartons und Zeitungsstapel auf Rattenspuren. Sie waren hier gewesen, aber vor langer Zeit … vielleicht vor Jahren. Er fand Rattendreck, der im Laufe der Zeit zu Staub zerfallen war, und einige Nester aus säuberlich zerkleinertem Papier, die alt und benutzt aussahen.
Jack zog eine Zeitung aus einem der Stapel und las die Schlagzeilen.
JOHNSON VERSPRICHT REIBUNGSLOSE AMTSÜBERNAHME
Die von JFK begonnene Politik wird im nächsten Jahr fortgesetzt
Bei der Zeitung handelte es sich um die Rocky Mountain News vom 19. Dezember 1963. Er ließ sie wieder auf den Stapel fallen.
Ihn faszinierte das Gefühl für Geschichte, das in einem aufkommt, wenn man die neuesten Nachrichten von vor zehn oder zwanzig Jahren vor Augen hat. Er fand Lücken in den Stapeln von Zeitungen und Dokumenten. Er fand nichts aus der Zeit von 1937 bis 1945, von 1957 bis 1960 und von 1962 bis 1963. Das mussten die Zeiten gewesen sein, in denen das Hotel geschlossen war.
Ullmans Erklärungen im Zusammenhang mit der wechselvollen Geschichte des Overlook schienen ihm nicht ganz glaubwürdig. Allein seine herrliche Lage hätten dem Unternehmen doch einen beständigen Erfolg garantieren müssen. Einen amerikanischen Jet-Set hatte es schon immer gegeben, lange vor Erfindung des Düsenantriebs, und Jack war der Ansicht, dass das Overlook eigentlich eine seiner Anlaufstationen gewesen sein musste. Das Waldorf im Mai, das Bar Habor House im Juni und Juli, und das Overlook von August bis Mitte September, bevor es dann wieder zu den Bermudas ging oder nach Rio oder wer weiß wohin.
Er fand einen Haufen alter Gästelisten, und hier sah er die Bestätigung. Nelson Rockefeller 1950. Henry Ford mit Familie 1927. Jean Harlow 1930. Clark Gable und Carole Lombard. 1956 hatten »Darryl F. Zanuck und Gesellschaft« für eine Woche das ganze oberste Stockwerk gemietet. Das Geld musste nur so über die Flure und dann in die Registrierkasse gerollt sein. Das Management musste ungewöhnlich schlecht gewesen sein.
Dies war wirklich Geschichte, und nicht nur in Zeitungsschlagzeilen. Sie lag auch in den Hauptbüchern, den Buchhaltungsunterlagen und den Quittungen für den Zimmer-Service begraben, wo man sie nicht ganz erkennen konnte. So hatte Warren G. Harding 1922 um zehn Uhr abends einen ganzen Lachs und einen Kasten Bier kommen lassen. Aber mit wem hatte er gegessen und getrunken? War es ein Pokerspiel gewesen? Eine Strategiebesprechung? Was?
Jack schaute auf die Uhr und war überrascht, dass schon fünfundvierzig Minuten vergangen waren, seit er nach
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