Shiva Moon
weil der Weg so weit ist und so weiter, sei es besser, ich käme mit. Im Taxi beteuert sie, dass ich nichts verpassen würde. Die überirdische Schönheit dieser Models sei das Werk von Make-up-Künstlern, und die eine, die ich meine, die sei zwar in der Tat ein traumhafter Anblick mit ihren Katzenaugen aus Assamund ihren endlos langen Beinen aus dem Punjab, aber unglücklicherweise sei sie kokssüchtig und habe einen Freund, der auf den Partys Leute wie mich mit Feuerwaffen bedrohe. Das ernüchtert mich. Ein modernes Indien, das Kate Moss imitiert, ist keine Alternative zu der Kälte, die in 4000 Meter Höhe regiert. In 3895 Meter, um genau zu sein.
Ich kann es mir leisten, genau zu sein. Ich habe recherchiert, in schlaflosen Nächten, an der großen Indienkarte, die hinter Scarlets Schreibtisch hängt. Sie hat es nicht einmal gesagt, aber es war ziemlich schnell klar: Es gefällt ihr nicht, wenn ich an IHREM Schreibtisch sitze, was ich sogar verstehe, aber das ist jetzt wirklich reines Schreibergewäsch. Denn für uns ist der Schreibtisch das, was für Casanova das Bett war. Mit schlechtem Gewissen schleiche ich mich nachts dorthin, und weil das obere Drittel der Karte von der Schreibtischbeleuchtung wenig mitbekommt, zeichne ich, auf einem Stuhl stehend, den Weg, der vor mir liegt, mit dem Lichtstrahl einer Taschenlampe nach. Und sehe nur noch Zahlen. Die 3895 (Quelle) ist umgeben von 4460 (Tapovan), 6440 (Shivling), 7070 (Satopanth), und man kann die Grenzen Chinas sehen, von da, wo ich hinwill. Und was erschreckt mich daran? Ich sag es jetzt noch einmal. Und dann nie wieder:
ICH HASSE KÄLTE.
Der Filmplakatmaler kommt wie versprochen nach drei Tagen. Wir sind von den Socken. Und ich auch ein wenig erschrocken. Genau so könnte ich aussehen,nach dreißig Jahren an Hanteln und Wegdrück-Maschinen, selbst mein Gesicht hat er gut getroffen. «Nur dein Blick ist ’ne Spur zu lieb», sagt Scarlet. «So lieb bist du nicht. Und Shiva eigentlich auch nicht.» Der neue Shiva mit dem lieben Blick, auf Leinwand (1,5 × 1 m ) und in Öl, muss jetzt nur noch digitalisiert werden, damit ich ihn an den Verlag mailen kann, und es ist mir natürlich wieder peinlich, das Bild bei «Foto Rama» am Khan-Markt abfotografieren zu lassen. Wären sie Moslems, würde es gehen, aber Rama ist ebenfalls ein Hindugott. Er spielt zwar eine Liga tiefer als Shiva, aber das interessiert hier nicht, denn wer sein Geschäft nach ihm benennt, ist Hindu, hundert Prozent. Was wird ein Hindu dazu sagen, dass sein Gott der Zerstörung mein Gesicht trägt? Das ist die eine Frage. Die andere: Was würde man in Bayern dazu sagen, wenn ein Inder ins Geschäft kommt und ein Bild von sich als Jesus mitbringt, am Kreuz, oder, besser noch, ein Inder, der gerade Lazarus von den Toten auferweckt?
4. Wenn hundert Inder schnarchen
Mir scheint, dass sich die Welt in exakt zwei Hälften teilt. Jedes Land, jede Stadt, jeder Quadratmeter teilt sich so. Da ist immer ein Arschloch und immer ein Mr. Nice Guy. Nie kommt einer allein.
Das Arschloch im Zug Richtung Himalaya ist ein junger Punjabi, der mir das Rauchen verbieten will. Aber zwischen den Waggons rauchen sie alle. Nein, sagt der Punjabi, hier sind überall «No Smoking»-Schilder, und er zeigt dabei auf ein Schild, auf dem «Toilet Western Style» zu lesen ist. Auf dem Schild an der gegenüberliegenden Tür steht «Toilet Indian Style» und woanders «Push» oder «Pull». Nirgendwo hier zwischen den Waggons ist ein «No Smoking»-Schild angebracht, aber das irritiert den Punjabi nicht im Geringsten. «Dann haben sie es vergessen», sagt er. Ihn stört übrigens nicht, dass ich rauche, ihm geht es um Macht. Die Macht des Denunzianten. Er kann zum Schaffner gehen und mich verpfeifen. Aber der Schaffner ist schon da. Gerade gekommen. Die Schaffner haben Klappbetten zwischen den Waggons. Er klappt seinsherunter und bietet mir an, Platz zu nehmen, damit ich im Sitzen weiterrauchen kann. Der Schaffner ist der Nice Guy des Quadratmeters. Und wer bin ich?
Ich bin ein Pilger auf dem Weg zur Quelle des Ganges und beschließe, wieder reinzugehen, um mir eine Mütze Schlaf zu holen. Genauso gut könnte ich versuchen, mich in das Italien der fünfziger Jahre zu beamen, um die blutjunge Sophia Loren zu ehelichen. Ich habe seit meiner Ankunft in Indien nicht mehr richtig geschlafen, und der Waggon hat keine geschlossenen Abteile, sondern offene Kojen mit jeweils drei Betten. Unten, Mitte,
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