Shiva Moon
oben. Ich liege Mitte, und hundert Inder schnarchen. Ich stehe wieder auf, um noch eine zu rauchen, doch das ist auch nicht mehr so toll, denn bei den Toiletten hat sich inzwischen etwas getan. Sie riechen nicht mehr, sie stinken nicht, sie sind wie ein Messer in der Nase, außerdem hat sich ein Volk von Kakerlaken über das Waschbecken ergossen. «Gewöhn dich schon mal dran», sagt eine Stimme in mir.
Ich probiere es ein zweites Mal mit dem Schlafen. Stattdessen wieder dumme Gedanken. Sind Reiseschriftsteller über fünfzig ein ähnliches Phänomen wie Zuhälter über fünfzig, die auch nicht gut gewirtschaftet haben? Das ist ein Thema. Ein anderes: Wie oft will ich eigentlich noch versuchen, meine erste Reise zu wiederholen, um ein paar lumpige Momente abzustauben, die ihr gleichkommen? Beide Themen werden natürlich durch das Rattern des Zuges losgetreten, denn diese Musik begleitet mich seit dreißig Jahren. Mit siebzehn aufgebrochen, mit fünfzig noch immer nicht angekommen?
Während ich mich diesen Blödsinn frage, schiebe ich hin und wieder das Rollo vor dem Fenster zur Seite, um eine Nacht in Indien zu sehen. Da sind Feuer irgendwo und gelbe Lampen, die ein Stück Hütte sichtbar machen, und wenn wir halten, sehe ich Affen auf den Bahnsteigen, die wie Hunde herumlaufen. Ansonsten rattern wir durch Zuckerrohrplantagen.
Ein weißer Schwan wartet auf mich, nachdem ich aus dem Zug gestiegen bin. Man kann sich natürlich darüber streiten, ob Schwan das richtige Bild für einen Ambassador ist. Die Karosserie ist strikt fünfziger Jahre, sie erinnert mich an einen kleinen, etwas bäuerlich ausgefallenen Wartburg. Bäuerlich, weil der Motor eigentlich besser zu einem Trecker passt oder zu einem Panzer, was große Vorteile hat, denn der Volkswagen Indiens kommt überall durch. Er ist für Schlaglöcher, Spurrillen und Schlammlöcher gebaut. Es gibt ihn in zwei Versionen. Die zweite heißt «de Luxe» und ist für Menschen entwickelt worden, die größer als 1,50 Meter sind. Bleiben wir fair. Größer als 1,65 Meter. Im Ambassador de Luxe klebt mein Kopf nicht am Dach. Trotzdem besteht kein Grund für Leichtsinn. Die Stoßdämpfer sind auch im de Luxe fürs Mithüpfen gemacht. Also, das Taxi ist okay, der Fahrer auch. Er sagt, dass er bis Gangotri keine fünfzehn Stunden braucht, sondern nur zehn, und froh gestimmt brechen wir auf.
Wir fahren, vom Ausgangspunkt am Fuß des Himalaya bis zu unserem Ziel, durch eine der schönsten Landschaften der Welt, doch davon sehe ich nichts, denn ich liege in Embryohaltung auf der Rückbank und dämmere vor mich hin. Schlafen kann ich nochimmer nicht, aber ich genieße etwas, das dem ähnlich ist. Ich mag deshalb hier auch nicht mit exakten Zeitangaben trumpfen. Nach gefühlten vier Stunden richte ich mich wieder auf. Teeplantagen wellen sich die Berghänge hinauf, und Adler kreisen, es ist ein fast unwirkliches Bild, so als ob man in eine überdimensionale Postkarte fallen würde. MANN, DU BIST IM HIMALAYA, sagt eine Stimme in mir, ALSO REISS DIE GLUBSCHER AUF, und eine andere Stimme sagt, leg dich wieder hin, mein Freund, und weil sie so freundlich spricht, höre ich auf sie. Der Fahrer spricht glücklicherweise überhaupt nicht mehr. Dafür hupt er. Vor jeder Kurve. Es gibt nur noch Kurven. Und tausend Kurven später sagt er: «Lunch!»
Uttarkashi ist die letzte Stadt vor den Pässen. Ich sehe nicht viel von ihr, weil Lastwagen, Busse und Pkws die Sicht auf die Details versperren, die meisten parken, wie wir. Alle wollen essen. Ich nehme ein einfaches Gericht zu mir, Reis und Dhal (Linsen), in der Hoffnung, dass mein Magen solche Sachen wieder mitmacht, zur Sicherheit schütte ich noch eine Cola hinterher. Coca-Cola, das wurde jahrzehntelang nicht bedacht, hat eine heilende Wirkung bei leichten Magenverstimmungen, und bei schweren wird es zur Nachbehandlung empfohlen.
Währenddessen hört der Fahrer nicht damit auf, seine Uhr zu betrachten. Was hat der Mann? Es ist erst sechs Uhr nachmittags, und es sind nur noch achtzig Kilometer bis Gangotri. Der soll sich nicht in die Hose machen. Oder geht’s ihm lediglich darum, möglichst schnell seinen Job durchzuziehen, ungeachtet meiner Bedürfnisse? Würde ich keinen Wert darauf legen, Anzahlund Länge der Pausen selbst zu bestimmen, hätte ich den Bus genommen. Ich will noch eine rauchen, Mann, und noch eine, und inzwischen starrt er mich so wütend an, dass man glauben könnte, er wolle mir eine knallen. Die Wut
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