Shiva Moon
schwitzt ihm aus dem Gesicht, aber er sagt nichts. Und wer, frage ich Sie, ist das Arschloch und wer der Mr. Nice Guy an diesem Tisch?
Ich bin das Arschloch, ganz klar, mir wird es eine Stunde später offenbar, der Mann ist im Recht. Die Sonne hat gerade mit einem dramatischen Untergang bewiesen, was Gott so an Farben draufhat, wenn er in Stimmung ist, und auch der Ambassador muss beweisen, was er kann. Die Straße ist der Hit. Vier Wochen zuvor hat sie ein zu später und zu starker Monsun weggespült; was davon übrig geblieben ist, schreit nach Maultier oder Geländemotorrad, aber der weiße Schwan bleibt tapfer, im ersten Gang, manchmal im zweiten. Es ist eine Qual, für Maschine, Fahrer und auch für mich, für mich allerdings nur mental, die Straße ist schmal, an einigen Stellen fast schmaler als der Ambassador, und sie führt eigentlich nur an Abgründen entlang, Schluchten genannt, ab und zu fahren wir über Asphalt, meistens aber nicht, und immer wieder wird die Straße von Bächen gekreuzt. Oder von Steinlawinen. So viel zum Zustand des Verkehrsnetzes in dieser Region. Mittlerweile sind wir auf 2500 Meter. Ich packe die warmen Klamotten von Benetton aus und beginne mich umzuziehen. Ich bin stolz auf mich. Ich bin so professionell. Und die Sterne strahlen so hell.
Trotzdem kommen die Sorgen zurück. Ich hatte sie nur unterdrückt. Sobald ich in Gangotri bin, werde ichmich erkundigen, ob der Trek in zwei Tagen zu machen ist. Wenn ja, heißt das vierundzwanzig Stunden weniger frieren für mich. Und werde ich heute Nacht schlafen können? Oder werde ich einfach so lange wach bleiben, bis mir die Birne durchbrennt? Der Fahrer stoppt. Dreißig Meter vor uns knallen Felsbrocken auf die Straße.
So geht es noch ein paar Stunden. Wir kommen nur im Schritttempo voran, und es wird immer kälter, und beides zusammen und noch viel mehr zwingt mich zur Konzentration. Ich beginne mich einzuklappen. Alle Sinne nach innen und den unsichtbaren Schutzschild aktiviert. Man kann es auch ganzheitliches Schweigen nennen. Vom Himalaya sehe ich nur, was die Nacht preisgibt. Ein bisschen Wasserfall, überhängende Felsen, Spurrillen und Geröll im Lichtkegel der Scheinwerfer. Hin und wieder Gestalten. Pilger? Einheimische? Räuber?! Der «Lonely Planet» warnt vor diesen Pässen nach Anbruch der Dunkelheit. Soll ich das Schweizer Messer aus dem Rucksack holen? Und wenn ja, wer, außer einem Apfel, soll sich davor fürchten?
Gangotri, in einem schmalen Tal eingeklemmt, ist noch wach, als wir ankommen. Nur die Busse schlafen, die Jeeps und die Ambassadors. Mein Fahrer stellt sein Taxi dazu, schnappt sich eine Decke und macht es sich auf der Rückbank für die Nacht bequem. Ich nehme meinen Rucksack und gehe die einzige Gasse entlang, die dieser Ort anzubieten hat. Rechts und links kleine Restaurants, Gästehäuser und Shops mit Devotionalien und warmer Wäsche. Stimmen fliegen mich an. «Room? Guide?» Ich höre nicht hin. Ich will erst einenTee und eine Zigarette und dann selbst nach einem Gesicht sehen, dem ich vertrauen kann. «Room? Guide?» Nee, lass mich in Ruhe. Noch nicht. «Room? Guide?» Und jetzt sehe ich sein Gesicht. Und seine Augen. In ihnen ist Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Verständnis. Und ich habe Menschenkenntnis. Man reist nicht dreißig Jahre durch die Welt, ohne IRGENDETWAS davon mitzunehmen. Ich vertraue dem Jungen auf Anhieb, vielleicht auch, weil er mir auf Anhieb sympathisch ist. Ich bleibe stehen.
«Du bist ein Führer?»
«Yes, Sir.»
«Du bringst mich zur Quelle?»
«Yes, Sir.»
«Wie lange brauchen wir?»
«Drei Tage.»
«Geht es auch in zwei?»
«Yes, Sir.»
«Dann lass uns was essen gehen.»
Der Junge heißt Vinod. Man braucht nur das d wegzunehmen und an rosso oder bianco zu denken, und der Name wird unvergesslich. Ich beglückwünsche mich. Er spricht Englisch, er ist intelligent, er bittet mich während des Essens um meine Landkarte, damit er mir die Route zeigen kann. Als ich ihm sage, dass ich keine habe, bittet er mich um einen Kugelschreiber. Er zieht damit einen einfachen Strich auf meinem Block, ohne viele Zacken und Kurven. Er markiert sechs Punkte an dieser Route, schreibt die Namen daneben und die jeweilige Höhe über dem Meeresspiegel. Dazwischen die Kilometerangaben. Von Gangotri (3090 Meter) bis Chirbasa (3600 Meter) sind es neun Kilometer, weiterefünf Kilometer sind es bis Bhojbasa (3800 Meter), wo wir schlafen werden, und noch einmal vier bis Gaumukh
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