Shiva Moon
Ahnung davon, und dann, wieder nach etlichen Anläufen, verstehe ich «Woher kommen Sie?», was natürlich nur eine rhetorische Frage ist, denn die Tatsache, dass der Mann deutsche Sätze von seinem Block abliest, lässt ja irgendwie darauf schließen,dass er über meine Herkunft bereits im Bilde ist. So plätschert die Unterhaltung dahin, und alle nehmen daran teil. Die Träger wiederholen einfach, was der Mann vorliest, und sagen jeden Satz mehrmals, und dasselbe tun sie mit meinen Antworten, Einwürfen und Korrekturen. Sie machen das weniger aus Wissbegierde, sondern erneut aus Höflichkeit. Einen Gast, den man nicht in das Gespräch einbezieht, lässt man allein. Es werden Tee und trockene Plätzchen gereicht, und einer hat ein Transistorradio im Zigarettenschachtelformat, an dem er so lange fummelt, bis Fetzen von Hindi-Pop das Zelt mit Fröhlichkeit erfüllen.
Im Prinzip können es Leute wie diese sein, die du auf dem alten Pfad nach Rishikesh triffst, denke ich. Leute wie diese können, wenn die Saison als Guide vorbei ist, auch als Drogenschmuggler arbeiten, oder als Räuber, kommt auf den Zufall an, oder darauf, ob ihnen danach ist. Vinod hat Recht. Bei Leuten wie diesen gibt’s kein Problem, wenn man sie kennt und mit ihnen kann, denn Leute wie diese sind eigentlich ganz nett.
Die Nacht wird zunächst fürchterlich. Ich liege zum Quietschen wach unter einem Haufen Decken, starre in die absolute Dunkelheit und hoffe, dass mir keine Ratte ins Gesicht springt. Für den Fall, dass das doch geschehen sollte, habe ich mir den Schal über das Gesicht gelegt. Und ich habe einen Anflug von Übelkeit und Magenkrämpfen. Mir scheint, dass mein Magen sich noch nicht ganz entschieden hat, ob er die Mahlzeit von eben verkraftet oder nicht. Es winken zwei Extreme: Entweder es geht gut, und ich kann ab sofort ALLES in Indien essen, oder es geht nicht gut, unddann habe ich ein echtes Problem. Eine Diarrhöe in Scarlets Gästebett ist eine blöde Krankheit, aber eine Diarrhöe hier oben ist tödlich, weil man beim Kotzen erfriert. Man wird deshalb meine Erleichterung verstehen, als ich mitbekomme, dass mein Magen den Zweikampf mit dem Abendbrot zu gewinnen beginnt.
Ich beschließe, das zu feiern und vor dem Zelt eine rauchen zu gehen. Das ist der beste Entschluss meines Lebens. Der Glanz des Mondes liegt in dem Himalayatal wie in einer Schale. Die Gletscher reflektieren sein Licht. Außerdem am Himmel: dreihundert mal dreihundert Trilliarden Sterne. Die ganze Kuppel. Und näher als gewohnt. Zum Greifen nah ist das Universum auf dem Dach der Welt.
Sofort nach Sonnenaufgang brechen wir auf. Der Pfad führt uns aus dem Tal heraus, und bald besteht die Welt nur noch aus Steinen. Es geht ständig bergauf. Wohin? Ich habe es fast schon vergessen. Ich bin gut drauf und putzwach, obwohl ich wieder kaum geschlafen habe, und auch mein Magen ist als Held aus der Prüfung hervorgegangen. Die surrealistische Gegend, die Luft, die wie eine Droge wirkt, die Gewissheit, dass die Rotation der Erde mich unaufhaltsam weiter in die Wärme dreht: So wird der Weg zum Ziel. Ich bin deshalb richtig überrascht, als wir endlich da sind.
Das Teil sieht aus wie ein Kristallpalast, aber der Vergleich ist viel zu schwach. Diamanten müssen her. Und der Palast ist nicht mit Diamanten geschmückt, sondern aus Diamanten gebaut. Alle Edelsteine der Welt hat der liebe Gott dafür gebraucht. Dabei ist esnur eine Höhle, mit einem Eingang so hoch und breit wie ein Haus. In einem Berg aus Eis. Um nochmal auf Gott als Bauherrn dieses Projekts zurückzukommen – ich sollte ihm danken, was ich auch mache, ununterbrochen mache, seitdem ich an der Quelle des Ganges stehe. Es ist früher Morgen, und was die jungen Sonnenstrahlen mit diesem Kristallpalast anstellen, wäre schon genug, um sich für den Rest des Lebens nicht mehr vor der Dunkelheit zu fürchten, weil man sich erinnern kann, wie es war und wie es ist, da oben, seit ich weiß nicht wie vielen Millionen Jahren. Nein, im Ernst, das würde reichen, es muss nicht auch noch aus dieser funkelnden und Lichtblitze werfenden Zauberhöhle der heiligste Fluss Indiens praktisch goldfarben herausgeflossen kommen. Ich bin an der Quelle. Und ich bin allein. Denn wir sind als Erste von Bhojbasa aufgebrochen, und Vinod hat sich zurückgezogen, er weiß um diesen intimen Moment zwischen Mensch und Fluss. Ich glaube nicht an Flüsse, aber ich denke, hier kann man eine Ausnahme machen.
Was gibt’s an Sünden
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