Shiva Moon
Frühling, wenn Pilgermassen sich den Pfad hoch- und runterschieben, mein Glück ist die baldige Schließung der Pässe, und mein Glück ist, ich sag es ungern, die Kälte. Inder hassen sie wie ich, und es sind nicht viele unterwegs, vielleicht so zwanzig bis dreißig Pilger ziehen im Abstand von Minuten einzeln oder in Paaren an dem Teezelt vorbei, einige Inder, zwei Schweizer, ein Italiener, der Rest kommt aus Israel. Als mich Vinod fragt, was ich von Israelis halte, sage ich, ICH LIEBE ISRAELINNEN, und für eine ausführlichere Beantwortung dieser Frage fehle es mir jetzt tatsächlich an Atem und ob er nicht wisse, dass ich Deutscher bin und als Deutscher eigentlich überhaupt kein Recht auf eine Meinung über Israelis habe. Ich bin nicht blind, natürlich weiß ich von meinen Reisen der letzten dreißig Jahre, dass der endlose Zug der jungen, gerade aus der Armee entlassenen Israelis über die alten Hippiepfade Asiens unbedingt eine Geschichte wäre. Sie reisen nur in großen Gruppen, und zwar in noch größeren als die Japaner, aber im Gegensatz zu den Japanern lassen sie sich nicht verarschen. Darumsind die Japaner hier beliebter, Vinod, das ist mir schon klar, und klar ist auch, dass ein Tourist, der vor ein paar Wochen noch Offizier der härtesten Armee der Welt gewesen ist, einen anderen Ton gegenüber seinem Guide anschlägt als zum Beispiel ich.
Es gibt allerdings auch keinen Grund für mich, da mit den Israelis gleichzuziehen, denn Vinod verhält sich hundertprozentig korrekt. Er warnt mich vor Milch, weil sie einen in diesen Höhen schwächt, und empfiehlt stattdessen Zitronentee, und siehe da, er hat Recht, er passt sich meiner Geschwindigkeit an und akzeptiert jede Pause, er nimmt auch noch meine leichte Tasche, er hält meine Hand, wenn wir über Baumstämme balancieren, er ermahnt mich, Wasser zu trinken, er nötigt mich zu essen, nee, Vinod ist okay, so okay, dass ich ihn mit einer alten Idee vertraut mache. Der Idee, den alten Pfad zu gehen. Ein indischer Dokumentarfilmer hat mir vor Jahren davon erzählt. Nur die Wandermönche, die Sadhus, gehen ihn und die Hirten. Der Pfad führt von Gangotri bis Rishikesh, also den ganzen Himalaya runter. Hat Vinod davon gehört? Er hat, mehr noch, er kennt ihn. Er ist ihn schon ein paarmal gegangen. Es sind 220 Kilometer, und man braucht zwischen zehn und fünfzehn Tagen. Für den Weg, auf dem wir gerade sind, hatte ich ein Tageshonorar von fünfhundert Rupien akzeptiert, für den alten Pfad nach Rishikesh biete ich ihm siebentausend Rupien als Pauschale an. In Vinods Augen passiert etwas. Sie flammen auf, und sie weiten sich. «Aber wir haben noch ein bisschen Zeit, und ich will es mir in Ruhe überlegen. Und was, Vinod, werde ich am Wegesrand sehen? Nur Dschungel?»
«Manchmal Dschungel, manchmal Dörfer.»
«Und wo werden wir schlafen?»
«Bei den Hirten.»
Was für ein Abenteuer! Dschungel, Schluchten, Hütten, Schlafen an Feuern, Duschen unter Wasserfällen. Das ist altes Indien vom Feinsten, das ist eine Zeitreise, das ist eine Geschichte, die man verkaufen kann. Allerdings, und auch das wird Thema, es gibt Gefahren. Der «Lonely Planet» warnt ausdrücklich vor diesem Pfad. Immer wieder gehen Trekker auf ihm verloren. Sie verschwinden einfach. Werden nie mehr gesehen, nicht mal die Knochen. Der «Lonely Planet» vermutet, es liegt an den Drogenschmugglern, die den Pfad nach Rishikesh traditionell ebenso benutzen, wie es die Sadhus und Hirten tun, und natürlich auch an den Räubern. Ich konfrontiere Vinod mit diesem Problem. Werden wir auch böse Menschen unterwegs treffen? Vinod sagt, ja, das werden wir, aber es sei kein Problem, denn er kenne sie alle.
Inzwischen haben wir die Baumgrenze hinter uns gelassen, es gibt keine Wälder mehr, auch der Pfad wird schwer, manchmal schmiegt er sich eng um einen Felsen, manchmal klettern wir, manchmal müssen wir von Stein zu Stein springen, um breite Bäche zu überqueren, und das wird immer anstrengender, denn die Luft wird immer dünner, und ich kann mir auch vorstellen, was ein 8000er-Mann wie Reinhold Messner über mich denkt, wenn er liest, wie es mir auf 3700 geht, ich nehme an, es ist in etwa dasselbe, was ich über ihn als Schreiber denke. Großer Gott der Berge,da sind Amateure unterwegs, trotzdem schaffen wir es und erreichen Bhojbasa, bevor die Sonne untergeht.
Das Bild, das sich mir nun bietet, kenne ich von meinem Shiva-Plakat. Hier ist das Original. Ein kleines Tal, gänzlich ohne
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