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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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Baumbestand, eingerahmt von vier fetten Gletschern. Nur Steine, Geröll und ein bisschen Erde hier und da. In der Mitte des Tals stehen zwei Gebäude, das rechte ist ein Ashram, das linke ein Guesthouse für Pilger mit einem Gemeinschaftsschlafsaal. Aber ich soll in einem Zelt schlafen, weil Vinod das für besser hält, warum, weiß ich nicht. Es steht oben am Hang, wo auch die Zelte sind, in denen die Guides, Träger und Maultierführer schlafen. Diese Zelte sind für sie gleichzeitig Teestube und Restaurant.
    Mir ist nicht nach Geselligkeit. Ich stelle einen ihrer Plastikstühle neben mein Zelt und ziehe mich wieder vollständig an. Während des Tages hatte ich mich manchmal bis aufs T-Shirt ausgezogen, aber jetzt ist die Sonne im Begriff «Hasta la vista, Baby» zu sagen, und das ist auf – mittlerweile – 3800   Metern in der Tat ein schmerzhafter Abschied. Zwei lange Unterhosen, eine Jeans, zwei Unterhemden mit langen Ärmeln, ein Hemd, ein Rollkragenpullover, zwei warme Jacken, darüber und einmal drum herum den Schlafsack, so sitze ich auf dem Plastikstuhl, und weil Scarlet beim Abschied ein Schatz gewesen ist, habe ich sogar eine Wärmflasche.
    Ich rufe Vinod und bitte ihn, sie mit heißem Wasser füllen zu lassen. Er kommt zurück mit warmem Wasser. Nein, sage ich, heiß, sie sollen es kochen lassen. Er kann es kaum glauben. Ich lege die kochend heiße blaue Wärmflasche unter den Schlafsack an meinenBauch, presse die Hände drauf und hoffe so, in meiner Mitte einen Hitzekern zu schaffen, der ausstrahlen wird, was er auch tut, nur bis zu den Füßen kommt er nicht. Also nehme ich die Füße mit auf den Stuhl. Ich erwähnte, glaube ich, schon irgendwo, dass ich seit vielen Jahren meditiere, und wenn ich es noch nicht erwähnt habe, dann tue ich es jetzt. Ich beherrsche den Lotussitz (beide Füße auf den Oberschenkeln) für wenige Minuten, den Heldensitz (ein Fuß auf dem Oberschenkel) für gut eine Stunde und den einfachen Schneidersitz für ewig. Auf diese Weise wärmt die Wärmflasche Füße, Bauch und Hände gleichzeitig, und so halte ich’s aus.
    Die Sonne ist derweil dabei, sich endgültig von den Gletschern zu verabschieden, von dem höchsten zuletzt, oder ist es nur der nächste, ich weiß es nicht. Jedenfalls liegt nur noch seine Spitze im Sonnenlicht. Sie glüht auf, dann ist das Licht weg. Vinod kommt und sagt, das Essen sei fertig. Ich will nicht essen, sage ich. Doch, du musst essen. Also füge ich mich.
    Das Essen ist noch nicht fertig. Vinod will mich nur der Einsamkeit entreißen. Da ticken die Inder grundsätzlich anders als ich. Sie können nicht allein sein, sie wollen nicht allein sein, und einen Freund, einen Gast, einen Klienten, mit dem man freundschaftlich verkehrt, allein zu lassen gilt als grobe Unhöflichkeit. Also, das Essen wird noch gemacht, und ich frage mich: wie? Zwei Kerzen und die Flamme des Gaskochers sind die einzigen Lichtquellen in diesem großen Zelt. Was im Topf kocht, kann der Koch einigermaßen erkennen, aber nach rechts und links greift er nach meinem Dafürhalten komplett ins Dunkle. Und ich habe bereitszwei Ratten gesehen. Eine hier und eine in meinem Zelt. Vinod sagt, das sei nicht schlimm, die Ratten blieben grundsätzlich unter den Gestellen, auf denen die Matratzen liegen.
    Als das Essen dann fertig ist, koste ich nur zaghaft davon. Ich kann kaum sehen, was ich esse. Es schmeckt nach Reis, Gemüse und kleinen Steinen, das heißt, ich hoffe, dass es kleine Steine sind und nicht Mäusekot oder gar der Kot der Ratten. Bei der Kälte wird der mit Sicherheit auch steinhart. Alle anderen jedoch langen herzhaft zu, sie verputzen riesige Portionen, und das zu Recht. Sie haben die Rucksäcke der Touristen getragen, manchmal tragen sie auch zwei, denn hin und wieder wollen Touristen sparen. Harte Arbeit, gutes Geld. Fünfhundert Rupien pro Tour, die Saison geht von April bis Ende Oktober, in drei Tagen ist sie zu Ende, dann reisen alle zurück nach Hause, nach Manali, Kaschmir, Assam, Nepal, denn Vinod ist der Einzige, der aus der Gegend kommt, obschon er wie alle anderen aussieht. Klein und schlank und dreckig, aber Muskeln wie Bruce Lee. Also nicht die dicken, sondern die, die wie Stahlseile sind.
    Der Chef des Zelts stellt sich plötzlich vor mir in Positur. Er hat einen Block in der Hand und liest laut in einer Sprache vor, die mir gänzlich unbekannt ist. Er liest noch einmal und noch einmal, und irgendwann schält sich ein «Guten Abend» heraus, besser, eine

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