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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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besten Milchkaffee hat. Sechs Tische, drei auf jeder Seite. Sie sitzen vorne links, ich nehme den Tisch dahinter und frage sie, ob es störe, wenn ich rauche. Nein, sagt das Traumgesicht aus (wahrscheinlich) Marokko. «Absolut nicht. Und wir können gern in unserer Muttersprache miteinander sprechen.» Sie heißt Jaquelina und kommt aus Wien. Ihre Freundin ist Holländerin und heißt Jane. Sie bitten mich, an ihrem Tisch Platz zu nehmen, und zu meiner Freude stelle ich fest, dass Jaquelina doch älter ist als meine Töchter, obwohl sie auch aus der Nähe betrachtet wie zwanzig aussieht. Jane ist zwanzig. Beide sind zum ersten Mal in Indien.
    Objektiv betrachtet habe ich es hier mit einem Gottesgeschenk zu tun. Ich nenne ihn mal Shiva. Für meine tapfere Pilgerschaft zur Quelle des Ganges, weder Ratten scheuend noch den drohenden Kältetod, hat er mich jetzt mit zwei Geistheilerinnen aus dem Bilderbuch belohnt, denn als Jaquelina mitbekommt, dass ich schwerhörig bin, bietet sie sofort eine Behandlung dagegen an. Sie arbeitet mit Kristallen, Jane mit purer Energie. Natürlich wollen sie erst noch ein bisschen mehr über meine Schwerhörigkeit wissen,vor allem interessiert sie das spirituelle Krankheitsbild. Ob ich eine Ahnung hätte, woher die Behinderung komme. Ja, sage ich, eine Ahnung habe ich. Ich habe sie von meinem Vater und der von seinem, und auch mein Urgroßvater war fast taub. Es liegt in der Familie. Das habe ich mir gedacht, sagt Jaquelina, und ob ich eine Ahnung hätte, wie meine Familie an die Sache gekommen sei. Ja, sage ich, auch da gibt’s eine Ahnung, eine kubanische. In Havanna habe ich vor Jahren einen Abakuá-Zauberer mit dieser Frage konfrontiert. Abakuá ist dasselbe wie Voodoo, erkläre ich, aber Erklärungen scheinen hier überflüssig, denn Jaquelina lächelt inzwischen wie jemand, dessen Fachgebiet Thema wird. Der Zauberer hält den Geist eines Toten in seinem Keller gefangen. Wenn ich’s recht bedenke, ist das eine ziemliche Gemeinheit, aber was erwartet man von schwarzer Magie?
    «Und der Geist wusste alles?», fragt Jaquelina.
    «Zumindest alles über meine Schwerhörigkeit.»
    «Und was hat er gesagt?»
    «Er sagte, dass sich meine Familie vor vielen hundert Jahren an Zigeunern versündigt habe und von ihnen verflucht worden sei.»
    «Ein Zigeunerfluch», sagt Jaquelina. «Das habe ich mir gedacht.»
    Sie bespricht sich mit Jane. Beide kommen zu demselben Ergebnis. Sie werden bei der Geistheilung versuchen, den Zigeuner herbeizurufen, der seinerzeit den Fluch losgetreten hat, damit ich ihn um Verzeihung für die Taten meiner Ahnen bitten kann. Das sei wichtig und es könne klappen, wenn ich es nur von Herzen täte, aber auch nicht zu devot, sonderndurchaus der Tatsache bewusst, dass ja auch irgendwann mal mit jedem Fluch Schluss sein müsse. Ich verspreche, es genau so zu machen, und wir setzen für die Geistheilung den Abend als Termin an.
    «Wo?», frage ich.
    «Im Hotel», sagt Jaquelina.
    «In welchem Zimmer?»
    «In deinem, wenn du willst», sagt Jane.
    Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Gehirn eines Mannes durchschnittlich alle sechs Minuten ein erotisches Bild produziert. Das Bild, das sich hier aufdrängt, ist ein flotter Dreier im grünen Ambiente, aber ich schwöre, es ist nur mein Gehirn, durch das die geilen Neuronen wie durch eine Bobbahn flitzen. Mein Herz macht da nicht mit. Mein Herz ist zufrieden damit, dass ich a) Gesellschaft gefunden habe und b), was für eine! Jaquelinas Seele ist so schön wie ihr Gesicht, und Jane besteht von Kopf bis Fuß aus Milch. Ich war früher auch so ein Milchgesicht, und ich war auch mal zum ersten Mal in Indien und habe dort Leute getroffen, die so waren, wie ich heute bin. Damals habe ich sie bemitleidet. Günther, zum Beispiel, in seinem weißen Leinenanzug und seinem weißen Mercedes, in dem er zwischen Ceylon und Pakistan hin- und herreiste, um dubiose Geschäfte zu machen. Nicht dass er mir gesagt hätte, dass sie dubios waren, aber anders konnte ich es mir nicht vorstellen, und die Art, wie er über Inder redete, hörte sich für mich wie eine Beleidigung meiner religiösen Gefühle an. Er schien von grundsätzlich anderen Indern zu reden als von denen, die ich kannte. Meine waren herzlich, fröhlich, lieb und weise, seine waren genauso bescheuert wie wir alle. Das Gesprächfand 1970 statt. Heute muss ich Günther Recht geben. Sie sind nicht schlechter und nicht besser als wir. Sie sind nur anders, und das Andere zog uns

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