Shiva Moon
eine. Wer ausrechnen will, wie viel eine Rupie in Euro ist, kommt mit dem kleinen Einmaleins nicht weiter, dafür braucht es die Wurzeln und Quadrate der höheren Mathematik, so viele Nullen hinterm Komma sind das, und vor dem Komma ist auch ’ne Null. Also, ein oder zwei Rupien sind so gut wie nichts und schmerzen niemanden, einen Touristen ohnehin nicht, und selbst wenn man jedem Bettler in Rishikesh was geben würde, wäre man am Abend noch nicht pleite. Darum geht es nicht. Es geht um den Unterhaltungswert von Fließbandarbeit. Immer dieselben Handbewegungen. Rein in die Tasche, raus aus der Tasche, rein in die Bettlerhand, raus aus der Bettlerhand, zwei Schritte weiter und rein in die Tasche, raus aus der Tasche … Natürlich macht man das nicht. Einfacher wäre es, die Münzen wie Samenkörner auf den Weg zu werfen oder die kleinen Scheine so an der Kleidung zu befestigen, dass sie von den Bettlern wie Blätter abgepflückt werden könnten, aber das macht man auch nicht.
Was man macht, ist auswählen. Ein sympathisches Gesicht, ein besonderes Lächeln, ein hoher Grad an körperlichem Verfall, und selbstverständlich gibt manjedem echten Krüppel. Aber das auch nur einmal pro Tag, egal wie oft man ihn passiert. Trotzdem betteln sie dich jedes Mal aufs Neue an, jedes Mal mit demselben Jammer in den Augen, da ist man bei den blinden Bettlern besser dran. Sehr bald hat man seine Favoriten. Ich gebe gerne einem jungen (und sogar wohlgenährten) Mann, weil er so viel lacht, und gerne einem alten, der offensichtlich ein Problem mit seiner Kopfhaut hat. Dem gebe ich, weil er an andere denkt. Er teilt alles, was er zu essen bekommt oder zu Essen machen kann, mit den Hunden der Gasse. Ständig sind ein halbes Dutzend bei ihm, und auch die heiligen Kühe streichelt er mit so viel Liebe, dass der Gedanke nahe liegt, der heilige Franziskus habe sich in ihm reinkarniert. Manche Bettler sind halt tierlieb. Und manche kinderlieb. Sie leihen sich die Säuglinge morgens von deren Müttern aus, um in uns noch mehr Mitleid zu entfachen. Die echten Mütter werden dann abends am Umsatz beteiligt. Aber auch das kann man mit Sicherheit nie wissen, es sei denn, man beschäftigt Detektive. Die gute alte Tradition, nur denen zu geben, die irgendwas für die milde Gabe tun, funktioniert in Rishikesh leider ebenfalls nicht, denn von ihnen gibt es auch zu viele. Sie haben ein Töpfchen mit roter Farbe in der Hand und Bindfaden in der Tasche. Mit der Farbe machen sie einen Punkt auf der Mitte deiner Stirn, um das dritte Auge zu markieren, und der Bindfaden bringt Glück am Handgelenk. Dazu schenken sie dir ein Mantra, machtvoll und individuell auf deine Persönlichkeit abgestimmt. Komischerweise ist es bei allen dasselbe. Es heißt OM und wird in Indien in etwa so oft benutzt wie das Amen im christlichen Mittelalter. Nein, so geht es nicht, meineHerren. Und was ist mit denen, die kein Geld wollen, sondern irgendwelche Medikamente? Du kannst sie zur Apotheke begleiten, um sicherzugehen. Okay, aber du kannst dich auch anschließend in der Nähe verstecken und zusehen, wie sie die Medizin wieder an den Apotheker zurückverkaufen. Lustiger ist es, wenn du an einen Gaukler gerätst oder an einen Zauberer.
Er sitzt auf einer Bank im perfekten Sadhu-Orange und winkt mich ran, und ich bin inzwischen so müde vom Abchecken, Misstrauen, Neinsagen und Weggucken, dass ich denke, geben wir ihm (und mir) nochmal eine Chance. Denn auch das muss gesagt werden: Echte Sadhus haben echte Kräfte. Echte Sadhus haben echtes Wissen. Echte Sadhus können durch Handauflegen echt was losmachen im Kopf und echt was lösen. In den dreißig Jahren, in denen ich nun Indien bereise, habe ich das dreimal erlebt. Sie legten nur kurz ihre Hand auf meinen Kopf, und jedes Mal hatte ich von diesem Augenblick an minimum eine Woche lang den Eindruck, ich hätte LSD genommen und käme nicht mehr runter. So was gibt’s durchaus. Warum nicht auf dieser Bank?
Er ist nicht jung und nicht alt, und er spricht ziemlich gutes Englisch. Er komme aus der Gegend um Gangotri, er habe sein Leben Gott gewidmet und er wolle mir was schenken, und zack! ist da eine kleine rote Kugel in seiner Hand. Ich weiß nicht, woher er sie geholt hat, vielleicht aus der Nase, denn die hat er kurz vorher berührt, vielleicht kam sie aus den weiten Ärmeln seines Gewandes gerollt, vielleicht hat er sie auch aus dem Nichts materialisiert. Es gibt Leute, die daskönnen, habe ich gehört. Sai Baba,
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