Shiva Moon
«Woran denkst du?», fragt sie gerade.
«Ich fühle noch nach.»
Das war die richtige Antwort. Ich soll es arbeiten lassen, rät sie. Die Wirkung einer Geistheilung stelle sich in den meisten Fällen erst später ein. So spät nun auch wieder nicht, wie sich zeigt: Nachdem sie gegangen sind, merke ich, es wirkt schon. Allerdingsnicht wie geplant. An der Schwerhörigkeit hat sich nichts getan. ABER ICH KANN ENDLICH SCHLAFEN. Wie ein Stein. Und ohne Unterbrechung. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Indien ratze ich die ganze Nacht durch und wache erst gegen elf wieder auf. Und so geht es an diesem Tag weiter. Erst mache ich noch ein Mittagsschläfchen, und draußen liege ich auch nur rum. Ich habe dafür einen Lieblingsplatz. Den Garten der Divine Life Society, einen der größten Ashrams der Stadt. Der Garten ist öffentlich, und er ist eigentlich auch kein Garten. Eher eine begehbare heilige Schrift. Die wichtigsten Szenen des zweitausend Jahre alten Sanskrit-Epos Mahabharata werden in Schaukästen gezeigt. Götterfiguren in Minilandschaften. Hütten, Höhlen, Paläste, sogar den Himalaya haben sie zwei Meter hoch und drei Meter breit nachgebaut. Die Quelle, ein paar Wasserfälle, Shiva nebst Gemahlin, Vishnu, die ganze Bande. Und Schrifttafeln erzählen, was sie da machen. Es wäre ein Einfaches, von Schaukasten zu Schaukasten zu gehen und abends ein Buch zu schreiben, das den Hinduismus in einer zeitgenössischen Sprache erklärt. Aber dank der Geistheilung gestern Nacht interessiere ich mich ausschließlich für die Bänke in diesem Garten. Ich wähle eine mit Blick auf das große Tor des Ashrams, und weil es offen steht, handelt es sich bei meiner Bank im Grunde um eine mit Ausblick auf den Ganges. Ich bleibe auf ihr den ganzen Nachmittag. Die Bäume spenden Schatten, die Saris Farben, die Menschen gehen nicht, sondern wandeln an mir vorbei oder sitzen auf den Bänken oder liegen wie ich. Alle sind entspannt. Alle sind sauber. Allehaben bereits im Ganges gebadet und ihre Sünden abgewaschen, nur ich noch nicht. Ich bin zu müde dazu. Meine Energie reicht gerade mal, um einen Satz ins Notizbuch zu schreiben. Nein, es sind zwei.
«29. 10. 05, im Garten der DLS. Zum Thema Sündenwaschen: Sünde ist Schuldbewusstsein und die Unfähigkeit, sich selbst zu verzeihen. Wenn du fest daran glaubst, dass der Fluss den Job für dich macht, dann macht er den Job.»
Das war’s, mehr Sätze schaffe ich nicht. Außerdem glaube ich nicht daran, dass der Fluss den Job macht. Und warum glaube ich es nicht? Weil ich es nicht glauben will. Die Mechanik ist mir zu durchsichtig. Immer wieder haben Religionsgründer vernünftige und praktische Dinge mystifiziert, um Gutes zu tun. Moslems werfen sich fünfmal pro Tag zu Boden, um zu beten. Buddhisten machen Ähnliches. In beiden Fällen ist dieses Gespräch mit Gott auch Gymnastik. Christen kriegen beim Abendmahl ein Schlückchen Wein (auch gesund), und wenn ich vor sechstausend Jahren ein Hindupriester am Ganges gewesen wäre, dann hätte ich auch behauptet, dass ein Bad in diesem Fluss von allen Sünden befreit, damit sich die Leute wenigstens einmal am Tag richtig waschen.
Kombiniert man das mit der seelischen Selbsthypnose, die im Grunde jeder Glauben ist, trägt man doppelten Nutzen davon. Gesund und fromm, sauber und geläutert. Wenn ich es recht bedenke, bringt mich das auf einen schmalen Pfad, weil es für alles stimmt, woran man glauben kann.
Was ist denn zum Beispiel mit meinem Amulett?
Ich trage Ganesha auf der Brust, und immer wennes Probleme gibt, denke ich an den «Überwinder aller Schwierigkeiten» und fasse ihn kurz an. Das läuft nicht konform mit meinem Erkenntnisstand. Natürlich kann ich sagen, dass ich mich nur an die Eigenschaften, die ihm zugesprochen werden, erinnern will, an die Strategien, mit denen er sich durchsetzt – mit dem Kopf durch die Wand, mit den Stoßzähnen was wegspießen, die Ratte Schlupflöcher suchen lassen –, aber das stimmt nicht. Obwohl ich hundertprozentig weiß, dass es keinen Elefantenköpfigen gibt, der für mich den Job macht, lässt etwas in mir von diesem Glauben nicht ab. Etwas hat sich verselbständigt, und ich wette, dass dasselbe auch mit einer leeren Cola-Dose funktioniert. Du brauchst sie nur ein Jahr lang jeden Morgen anzubeten, und an dem Tag, an dem du es vergisst, hast du ein schlechtes Gewissen.
Hare Ram
Hare Cola?
Ich höre Gesänge. Ein Haufen Ashramschüler in orangen Roben zieht
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