Shiva Moon
fröhlich an mir vorbei. Nur Jugendliche und Kinder, bis auf den in ihrer Mitte. Den schätze ich auf vierzig plus. Lange Haare, voller Bart und dicker Bauch. Ihr Guru. Ich kenne ihn nicht, ich weiß nicht, was er kann. Wahrscheinlich nicht so viel wie Jesus, aber der Vorteil von dem Dicken ist: Er lebt. Ich komme drauf, weil mir Jaquelina gestern erzählt hat, dass sie zwar mit allen möglichen Geistern Kontakt hat, aber JESUS IHR WEG ist. Ich habe sie angelächelt und nichts dazu gesagt. Ich mag zu sehr, wie sie strahlt. Ich habe also nur still bei mir gedacht,dass Jesus ein paar tausend Jahre tot ist und sie deshalb von ihm in etwa so viel Hilfe erwarten kann wie Gaddafi von Hannibal. Wo ist Jaquelina eigentlich? Und Jane? Ich habe sie den ganzen Tag noch nicht gesehen.
Ich stehe auf und folge den kleinen Mönchen. Es ist die Zeit dafür. Bereits dunkel und fast sechs. Ganga Arti fängt gleich an. Und es ist nicht weit bis dahin. Gleich vor dem Ashramtor sind die Stufen, auf denen jeden Abend ein paar hundert Menschen sitzen und das heiligste und wahrscheinlich auch älteste Lied Indiens singen. Es wird überall am Ganges gesungen, von Gangotri bis Kalkutta, aber hier, vor dem Ashram der Divine Life Society in Rishikesh, mag ich es am liebsten. Die Bühne ist so malerisch, die Götter sind so schön. Sie sind aus Stein und farbenfroh bemalt und ideal proportioniert. Krishna lenkt einen Streitwagen in Lkw-Größe, den vier steinerne Rösser ziehen. Hinter ihm steht Arjuna, der Held, mit Pfeil und Bogen. Es ist eine Szene aus der Bhagavadgita. Einem philosophischen Gedicht. Ich habe die Bhagavadgita mal geliebt. Ich trug sie stets bei mir, was kein Problem war, denn Reclam verkaufte sie im Hemdtaschenformat. Man kann sie aufschlagen, wo man will, die Verse treffen immer. Das ist lange her, man ändert seinen Geschmack. Heute lese ich lieber Gedichte von Bukowski. Und wissen Sie was, manchmal denke ich, dass sie und die Bhagavadgita inhaltlich identisch sind, sprachlich natürlich nicht. «Wer gleich sich bleibt, bei Freud und Leid, der reift für die Unendlichkeit», sagt Krishna zu Arjuna. «Kipp noch ’n Bierchen, es geht sowieso alles den Bach runter», würde Bukowskisagen, aber das ist doch dieselbe Message, oder nicht? Krishnas Streitwagen steht oben am Weg, Shiva ist unten im Ganges. Wie unterschiedlich die Religionen sind. Jesus geht über Wasser, Shiva sitzt drauf. Im Lotussitz, wie immer. Die kleinen Mönche haben sich inzwischen auch gesetzt. Direkt an das Ufer. Drei in einer Reihe, zwanzig Reihen insgesamt. Sie bewegen ihre Oberkörper synchron zum Gesang. Es sieht wie eine orange Welle aus. Auf den Stufen drängen sich Pilger, Anwohner und Touristen. Fast alle singen mit. Einer von ihnen bin ich. Und wie alle habe ich ein Körbchen aus Palmenblättern gekauft, um es nach dem Lied wie ein Schiffchen auf den Fluss zu setzen. Ein paar Blüten, Wachs und ein Kerzendocht sind darin. Ist das schizophren? Eben noch bekennender Atheist und Ganges-Entmythologisierer, und jetzt dies:
Du bist mein Vater
Und Du bist meine Mutter
Du bist mein Bruder
Und Du bist mein Freund.
Du bist Weisheit
Du bist Reichtum
Du bist alles für mich, mein Gott.
Das ist die Übersetzung von dem, was hier gerade gesungen wird. Das Lied hat eine wunderschöne Melodie. Sehr kindlich, sehr rührend, sehr herzöffnend. Und nur darum geht’s. Und plötzlich, zack, sitzt rechts Jaquelina neben mir und, zack, links Jane. Ich freue mich ungemein, sie wiederzusehen, und sie freuen sichanscheinend über mich. Sie wissen ja sowieso, dass ich nicht so nihilistisch bin, wie ich tue. Auch sie haben die Palmenblattschiffchen für zehn Rupien gekauft, und einer nach dem anderen übergibt es den Wellen und wünscht sich was dabei. Und dazu, man braucht es wohl kaum noch zu erwähnen, leuchten wieder mal die Sterne. Und die große Himmelslaterne.
Ein halbes Stündchen später habe ich eine schwache Minute. Jaquelina stellt mir nach der Ganga Arti einen Schweizer vor, und so wie der aussieht, hätte ich ihn früher danach gefragt, ob er etwas zu kiffen dabeihat. Jetzt frage ich ihn auch danach, glücklicherweise hat er nichts, jedenfalls nicht am Körper. Im Hotel ja, aber er wohnt in Lakshman Jhula, und so weit reicht meine schwache Minute nicht. Die satte Trägheit des Tages scheint sich in den Abend hinüberzuretten.
Ich schlage vor, in einem der besseren Restaurants essen zu gehen. Es erweist sich als gute Idee. Wir kriegen einen
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