Shiva Moon
denken kann, dass Rama die Auswahl nicht nur aus musikalischen Gründen getroffen hat. Er sagte mir vor der Abfahrt, dass er Jaquelina unheimlich schön findet.
Mit «Pretty Woman» und alles in allem glänzender Laune geht es raus aus Rishikesh, und wir fädeln uns auf die Überlandstraße ein. Was folgt, sind zweihundertfünfzig Kilometer Tortur. Überlandstraßen waren in Indien noch nie ein Vergnügen, aber der Wirtschaftsboomauf dem Subkontinent hat aus dem Vorhof der Hölle die Hölle selbst gemacht. Es gibt zehnmal so viele Kraftfahrzeuge wie vor zehn Jahren. Aber nicht zehnmal so viele Straßen. Ich fürchte, nicht mal doppelt so viele. Wie das aussieht? Nun ja, in der freien Landschaft zwischen den Städten fährt man Kolonne. Nähert man sich den Städten, fährt man Stop-and-go, und in den Städten fährt man Autoscooter. Wir kennen das vom Rummelplatz. Kinder sitzen in Elektrowägelchen und suchen den Crash. Der Unterschied zwischen den Kirmeskarren und den Karren, in denen ich jetzt eingekeilt bin, ist allerdings mannigfach. Erstens sind diese schneller, zweitens sind sie nicht rundum mit dicken Gummiwülsten gepolstert, und drittens sind es keine Elektroautos. Benzin, Diesel und wahrscheinlich noch Schlimmeres treiben sie voran oder wüten im Leerlauf, und die wenigsten haben einen Katalysator wie Ramas moderner Tata. Sie haben nicht mal einen Auspuff. Okay, das ist übertrieben. Ein bisschen Auspuff ist überall noch dran. Kein Problem, Ramas Tata hat Airconditioning. Sein oder Nichtsein? Das ist hier nicht die Frage. Ersticken oder erfrieren? Darum geht’s in diesem Fall. Wir entscheiden uns für Erfrieren. Und dann doch lieber für Ersticken.
Zur Landschaft ist auch etwas zu sagen. Sie ist langweilig. Flach, grün, konsequent durchsiedelt. Im Himalaya greift die Überbevölkerung nicht, aber kaum biegt man in die nordindische Tiefebene ein, wehen Ahnungen herbei, was 1,2 Milliarden Menschen bedeuten. Weil also weder Tempo noch Aussicht auf dieser Fahrt ein Amüsement sind, konzentrieren wir uns ganz auf Ramas Zukunftspläne. Er will von mir wissen, ob Jaquelinaverheiratet ist. Sie sitzt hinten, und im Rückspiegel sehe ich sie intensiv nicken. «Nein», sage ich, «sie ist nicht verheiratet.» Und rums! habe ich ihr Knie in meinem Rücken. «Aber sie hat einen Freund?», sagt der Taxifahrer. Jetzt sehe ich Jaquelina im Rückspiegel nicht nur nicken, sondern auch die Innenflächen ihrer Hände zum Gebet zusammenlegen. «Nein», sage ich, «sie hat auch keinen Freund. Du hast Glück, sie ist noch frei.» Von der Rückbank kommt ein kleiner Schrei. «Und hörst du, Rama, sie mag dich.»
Natürlich wissen wir alle, dass wir hier Spaß machen, aber ein Körnchen Wahrheit ist zumindest für Rama doch dabei. Jeder Inder, der noch nicht in Europa war, will nach Europa. «Das ist nicht so einfach», sage ich.
«Warum? Ich brauche nur so ein Papier. Das muss sie unterschreiben.»
«Du meinst ein Visum?»
«Papier.»
Wir lachen fürchterlich. Dann beginnt Rama, Jaquelina nach ihrem Leben in Österreich zu befragen. Er will wissen, was für ein Auto sie fährt. Als er hört, dass sie nur ein Fahrrad hat, kommt er ein bisschen aus dem Takt. Macht aber nichts, weil wir sowieso gerade wieder stehen. Irgendwo, Kilometer vor uns, ist eine Bahnschranke heruntergegangen. Irgendwo, Kilometer hinter uns, ist das Ende der Schlange. Trotzdem fahren ständig irgendwelche Vögel auf dem Seitenstreifen an uns vorbei. Das ärgert mich ungemein, denn diese Vögel, die sich vorne wieder in die Schlange reindrängeln, sind durch die Bank Chauffeure von Luxusschlitten, und was mich daran ärgert, ist zweierlei:a) die selbstverständliche Arroganz der Reichen und b) die selbstverständliche Akzeptanz dieses Verhaltens seitens der Nichtreichen. Keiner stellt sich ihnen in den Weg. Sie denken nicht mal dran. Reichtum ist wie Glück und Schönheit die Folge von gutem Karma. Und was ist mit denen, die keine Hindus, sondern Moslems sind? Sorgen die hier für Gerechtigkeit? Kein Stück. Auch sie lassen, ohne überhaupt zu registrieren, dass sie verarscht werden, die S-Klassen an sich vorbei. In denen ja nicht nur Hindus sitzen, sondern auch ihre Leute sowie Buddhisten und Christen. Religionen mögen anderswo das eine oder andere bewirken. Auf der Straße bewirken sie nichts. Wozu braucht man sie dann?
Was man bräuchte, wären vernünftige Autobahnen, um hier die Welten zu trennen. Denn das vergaß ich bisher über den
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