Shiva Moon
Erfahrung ab und konzentriere mich auf das Kerngeschäft. Ich will nur noch den Gehirnzellen beim Wachsen zusehen.
Am Abend dann das große Fest. Gefeiert wird der Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Die Hauptaktion des Dev Deepavali wird am Dasaswamedh- («Zehn-Pferde-Opfer»)Ghat zelebriert, dem größten der Stadt. Es ist nicht weit vom Hotel entfernt, ich kann zu Fuß gehen. Gehen? Ein Tropfen im Fluss geht auch nicht. Es braucht fast eine Stunde, bis mich der Strom der Lampen, Laternen und Kerzen tragenden Pilger bis zu der breiten Treppe gebracht hat, die zum «Zehn-Pferde-Opfer»-Ghat herunterführt. Kaum bin ich unten, steige ich wieder hinauf, denn ich will das Ganze doch lieber von der Dachterrasse eines Restaurants überblicken. Bei mir zu Hause würde man sagen, dass auf den Platz am Fluss etwa zwanzigtausend Menschen passen, wenn sie wirklich eng beieinander stehen. Aber bei mir zu Hause fährt man auch nicht zu viert auf dem Fahrrad. Bei mir zu Hause sind außerdem die meisten dicker als hier. Fünfhunderttausend werden kommen, schrieben die Zeitungen, und das kann nun wirklich nicht sein, aber eine gefühlte halbe Million Menschen ist es mit Sicherheit.
In den Ganges sind Stege und eine Bühne gebaut. Auf der Bühne sitzen die Ehrengäste (Politiker, Priester), auf den Stegen tanzen die schönsten Tempeltänzerinnen, die man kriegen konnte, in feuerroten Saris. Die Musik ist fromm UND erregend. Immerwieder bricht die Masse in Jubel aus. Als dann auch noch aus einem Helikopter Blütenblätter auf sie herunterregnen, explodiert der Jubel, ein triumphaler Schrei aus gefühlten fünfhunderttausend Kehlen. Das kann ’ne Menge in einem bewegen, wenn man sich darauf einlässt. Aber ich lasse mich nicht darauf ein. Ich kann es nicht. Es geschieht hier Ähnliches mit mir wie vorhin im Hotel. Ich sage «ähnlich». Nicht «dasselbe». Denn beim Dev Deepavali geht es mir nicht um die Wahrheit, die im THC ist, hier bezweifle ich den Wahrheitsgehalt von Emotionen. Täte ich das nicht, könnte ich auch im Fußballstadion nach Gotteserlebnissen suchen. Traue nicht den Gefühlen. Traue nicht dem Haschisch. Traue nicht dem Faulsein. Das sind meine drei Säulen der Weisheit von Varanasi, und darüber hinaus habe ich zu dieser Stadt eigentlich nur noch zu sagen, dass sie die Mitte ist. Die Mitte der nordindischen Tiefebene, die Mitte meiner Reise und die Mitte der Reise, die der Ganges macht. Bei Varanasi hat er etwa die Hälfte seines Weges von der Quelle bis zur Mündung hinter sich gebracht, und es ist bezeichnend für den Hinduismus, dass er seine Hauptstadt des Todes an die Mitte des heiligen Flusses gebaut hat und nicht an dessen Ende. Der Tod ist nur ein Tal zwischen zwei Wellen. Das Ende ist die Mündung. Der Ganges mündet im Golf von Bengalen. Die Seele in Gott. Eigentlich ein starker Satz, aber für einen, der eben noch gottlos war, ist es eher ein Rückfall.
Und wie geht’s jetzt weiter? Zwischen Varanasi und Kalkutta liegen die Wälder von Bihar. Sie sind wunderschön und saugefährlich. Räuber leben in ihnen. DerenIdeale haben nichts mit Robin Hood zu tun. Ich schätze, sie kennen nicht mal seinen Namen. Die Räuber von Bihar nehmen von den Reichen, aber geben nichts den Armen. Sie nehmen auch von den Mittel-Reichen und den nur Wenig-Wohlhabenden, sogar von den Fast-Armen. Sie nehmen grundsätzlich von allen grundsätzlich alles. Auch das Leben. Nur ein totes Opfer ist ein gutes Opfer, weil es keinen Ärger mehr machen kann.
Die Brutalität der Räuber von Bihar ist das eine. Das andere ist ihre schiere Menge. Böse Zungen behaupten, dass die Bevölkerung von Bihar (sechsundachtzig Millionen) praktisch eine einzige große Räuberbande ist. Warum, ist klar. Es gibt kaum andere Gelegenheiten, sich zu beschäftigen. Und das nicht erst seit einem Jahr. Die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Verarmung in dem unterentwickeltsten Bundesstaat Indiens währt lange genug, um das Räuber-Gen zum festen Bestandteil der Erbanlagen zu machen. So weit die bösen Zungen. Scarlets Kommentar, mit der ich in Delhi vor Tagen darüber sprach: «Wenn ich in Bihar zu tun habe, reise ich nur in Begleitung eines lokalen Journalisten. Die wissen, wann welche Straße gerade nicht überfallen wird.» Gibt es keine Polizisten? Es gibt zu viele. Und weil alle korrupt sind, machen sie leider Druck in die falsche Richtung. Je mehr geraubt und gemordet wird, desto mehr Bestechungsgelder verdienen sie. Dazu
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