Shiva Moon
kommt: Die Straßen von Bihar sind für die Belange der Wegelagerer geradezu ideal. Jahr für Jahr geht der Monsun drüber, ohne dass sie nachher irgendwer repariert. Das macht sie nicht nur zum Härtetest für Mensch und Material, das macht sie auch sehr langsam. Govinda jedenfalls weigerte sich, sie mitmir zu befahren. Er hatte sich mit seiner Familie und Kollegen besprochen. Alle sagten, nein, er soll den Zug nach Kalkutta nehmen. Aber nur den Nonstop-Express. Der hält in diesem Scheißbundesstaat nicht einmal an. Kein schlechter Vorschlag, aber «er» bin ich, und mir ist heute einfach nicht nach zwölf Stunden Fahren mit der indischen Eisenbahn. Mir ist eher nach einer Stunde Fliegen. Okay, zwei Stunden, weil ich keinen Direktflug bekomme.
Zeit, um zu lesen.
Das Bombenattentat von New Delhi ist inzwischen auf Seite vier der «Hindustan Times» zurückgefallen. Die Titelseite gehört einer Gefängnisrevolte. Zehn Wächter erschlagen! Achttausend Kriminelle ausgebrochen! Wann? Gestern. Wo? In Bihar. Es macht Spaß, Nachrichten zu studieren, die Reiseentscheidungen als richtig bestätigen. Meide die Gefahr, berausche dich am Leben. Auch an dem Wein, den sie an Bord anbieten. Modernes Pilgerleben, aber ewige Wahrheiten. Zum Beispiel: Rotwein macht schläfrig. Ich nicke ein und wache wieder auf von einer Durchsage des Kapitäns. Ich verstehe sie nicht. Aber ich muss eine ganze Weile gedöst haben, denn unter uns ist bereits das Lichtermeer von Kalkutta. Und über uns der Vollmond. Dann ist er weg. Jedenfalls aus meiner Sicht, weil der Flieger sich in eine Kurve legt, um den Landeanflug einzuleiten. Denke ich. Macht er aber nicht. Stattdessen beginnt er über dem Domestic Airport der 1 4-Millionen -Metropole West-Bengalens zu kreisen. Und nach jeder Runde kommt der Mond zurück. Weil der Nachthimmel gänzlich wolkenlos ist, wirken die Höfe des Mondes wie seine Aura auf mich.Ein Himmelskörper mit Heiligenschein. Und zack, ist er wieder verschwunden. Obschon, so zack, zack nun auch wieder nicht. Der Flieger ist keine MIG. In der Passagierluftfahrt legt man sich magenfreundlich in die Kurven. Und wie wird Kalkutta sein? Wo werde ich schlafen? Wen werde ich treffen? Die Guten oder die Bösen? Oder, wie in Varanasi, eigentlich nur mich? Nein, das glaube ich nicht, dafür funkelt die Stadt zu fröhlich. Das lässt auf ein lebendiges Nachtleben schließen und weniger auf beharrliche Selbstreflexion. Eine gewisse Erregung bemächtigt sich meiner. Außerdem freue ich mich auf die erste Zigarette nach dem Flug. Zwei Stunden nicht rauchen geht in Ordnung, aber langsam meldet sich der Nikotinentzug. Ebenfalls meiner guten Laune ein wenig abträglich ist das Geräusch, das sich alle paar Runden um den Mond wiederholt. Weil ich so oft fliege, kenne ich es gut. Ich habe es tausendmal gehört, und was mich stutzig macht: Heute hört es sich anders an als die tausend Mal zuvor. Kürzer, ruckartiger, es zieht nicht wirklich durch. Kann es sein, dass wir seit nunmehr einer halben Stunde um den Vollmond kreisen, nicht weil wir noch keine Landeerlaubnis bekommen haben, wie der Kapitän von Zeit zu Zeit erzählt, sondern weil er das Fahrwerk nicht herauskriegt? So einen Satz beendet man nicht mit einem Fragezeichen allein. Da gehört ein Ausrufezeichen dazu!
Ich persönlich habe noch nie eine Bauchlandung erlebt. Ein Freund hat mir davon erzählt. Sein Name ist Mischa, und Mischa gilt nicht als besonders zimperlich. Drachenflieger, Dschungelführer, Amazonas-gestählt. Beim Drachenfliegen brach er sich mehrmals die Beine,im Amazonas holte er sich die Malaria und Schusswunden. Trotzdem, sagte Mischa, war die Bauchlandung seinerzeit in Kenia das Schlimmste, was er je erlebt hat. Die Airlines verniedlichen ja gerne das eine oder andere. In ihren Sicherheitsvideos fallen bunte Sauerstoffmasken wie Überraschungspräsente vor die Nasen der Passagiere, wenn der Luftdruck in der Kabine nicht mehr stimmt. Und zum Thema Bauchlandung sagen sie, dass es reicht, sich in den Sitzen nach vorne zu bücken, wie beim Gebet. Und nachher sieht man fröhliche Passagiere auf den Rutschen der Notausstiege. Mischa dagegen meinte, mit einer Landegeschwindigkeit von 380 km /h ohne Räder auf Beton aufzusetzen fühle sich an, als wenn ein Riese mit einem riesigen Vorschlaghammer auf dein Rückgrat schlägt. Wievielmal pro Minute? Fragen wir lieber: wievielmal pro Sekunde? Mit einem Bandscheibenvorfall ist das nicht vom Tisch. Und die Verletzungen, die
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