Shotgun Lovesongs
wahnsinnig an Ronny.«
»Und er ist so berühmt! Ich wusste erst gar nicht, wer er war, aber dann hat mir Ronny seine ganzen Mappen gezeigt, wo er alle möglichen Sachen eingeklebt hat und so, ich meine, Scheiße – Lee war schon im Rolling Stone und in Spin und sogar in People .«
Ich war ein bisschen sauer, dass ich nicht neben Henry sitzen konnte, und ich gebe zu, dass ich nicht besonders nett zu Lucy war.
»Ja, das stimmt«, antwortete ich. »Sogar in People .«
»Okay, also jetzt erzähl doch mal, was du bei der Hochzeit anziehst«, sagte Lucy, ohne sich beirren zu lassen.
Ich war seit dem Nachmittag, als Henry mit Lees Einladung vom Briefkasten zurückgekommen war, jeden Tagjoggen gegangen. Und ich habe dabei sehr hart trainiert. Zu dem Zeitpunkt war es noch Frühling und ich hatte eine unbändige Sehnsucht nach Sonne, nach frischer Luft. Morgens, wenn ich die Kinder in die Schule gebracht hatte, räumte ich erst die Küche auf und dann zog ich los, rannte über die Feldwege, während der Tag allmählich wärmer wurde, die Luft aber noch kühl und feucht war.
Ich wollte, dass mein Körper für die Hochzeit schlank war, ich wollte nicht in irgendeiner piekfeinen New Yorker Hotellobby stehen und altbacken und blass aussehen wie irgendein hinterwäldlerisches Mauerblümchen. Also ging ich laufen, morgens, wenn das Schmelzwasser lautstark durch die Frühlingsgräben rauschte und wenn über den noch unbepflanzten Feldern der Bodennebel hing, wie lauter Geister, die ich im Schlaf überrascht hatte. Ich lief und spürte den Schotter unter meinen Turnschuhen, der sich weich und ein bisschen rutschig anfühlte. Am ersten Morgen war mein einziger Gedanke, dass ich auf keinen Fall stehen bleiben durfte, also rannte ich den ganzen Weg in die Stadt ohne eine Pause. Fünf Meilen. Als ich schließlich Little Wing erreichte, waren meine Füße mit so vielen Blasen übersät, dass ich gezwungen war, Henry anzurufen und ihn zu bitten, mich an der Bücherei abzuholen.
Aber danach wurde es einfacher, flüssiger. Ich überließ Henry seinen Kühen und Maschinen und Feldern und rannte die Auffahrt hinunter auf die County Road X, winkte den vorbeifahrenden Pick-up-Trucks und Traktoren. An einem Tag beschloss ich, zu Kip und Felicias Haus zu laufen. Das waren sieben Meilen, aber der Morgen war eben erst angebrochen und die Temperaturen wunderbar mild und so suchte ich mir ein Tempo, das mich nichtüberforderte, und folgte meinem Rhythmus bis zum Ziel, spürte meinen Atem, das Federn meines Körpers.
Während ich die Auffahrt hinauflief, winkte Felicia mir zu. Sie saß hinter einer Fensterwand, die nach Süden ging und von der Decke bis zum Boden reichte. Ich hatte gehofft, sie zu überraschen, sie dabei zu erwischen, wie sie gerade mal nicht arbeitete, sondern in dem ausgedehnten, mustergültig sauberen Haus irgendwo herumfaulenzte. Sich Seifenopern anschaute oder irgendeine dämliche Gameshow. Wenn ich richtig Glück hatte, würde sie vielleicht sogar lang ausgestreckt auf dem Sofa liegen, eine Schüssel voll bunten und furchtbar süßen Frühstücksflocken essen und wiehernd über irgendwelche Zeichentrickfilme lachen, während ihr die grellfarbigen Krümel an den Zähnen klebten. Ich hatte gehofft, sie in totalem Chaos anzutreffen, das Haar auf ihrem Kopf wild zusammengesteckt wie das Nest eines Eichhörnchens, im Schlafanzug und mit Brille, die Gesichtsmaske von letzter Nacht noch auf Wangen, Kinn und Stirn verschmiert. Aber nein – schon von der Auffahrt aus konnte ich sehen, dass sie makellos zurechtgemacht war, mit einer engen Yogahose und einem ärmellosen Top bekleidet, das Haar so perfekt frisiert, als wäre sie gerade eben an diesem Morgen vom Friseur gekommen. In einer Hand hielt sie einen Kaffeebecher und in der anderen ein schnurloses Telefon, in das sie hineinsprach. Sie winkte mich ins Innere des Hauses, als sei ich gerade ohne Termin in ihrem Büro erschienen. Was ja im Grunde genommen auch stimmte.
Als ich noch ungefähr zehn Meter vom Haus entfernt war, hielt ich an, um meine schmerzenden Beine zu dehnen. Ich war froh darüber, dass ich nicht außer Atem war, dass das Laufen tatsächlich schon etwas in mir bewirkthatte. Was ich während meiner Schwangerschaften fast noch am meisten genossen hatte, war dieses Phänomen, dass mein Körper mich immer wieder überraschte; dass ich dieses winzige Geheimnis irgendwie in mir bergen und es dann in die Welt hinausbefördern konnte, dass ich einen solchen Schmerz
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