Shotgun Lovesongs
aushalten konnte, dass selbst meine Knochen nachgaben, sich bogen und dass mein Körper sofort in der Lage war, diesen neuen Menschen zu ernähren, von einem Moment auf den anderen! In solchen Augenblicken, nach einem ausgiebigen Lauf, erkannte ich, dass Sport eine ganz ähnliche, ebenso unvorhergesehene Wirkung haben konnte – dass ich mich selbst damit überraschen konnte, zehn Meilen zu laufen, ohne dass es mir etwas ausmachte.
»Wie wär’s mit einer Flasche kaltem Wasser?«, fragte Felicia und hielt die gläserne Eingangstür weit auf. »Komm rein und zieh dir diese Schuhe aus. Setzt dich und entspann dich.«
»Wasser wäre himmlisch«, sagte ich. »Viel zu tun heute Morgen?«
»Nein, nicht wirklich. Das gerade war nur Kip. Nach dem ganzen Frühlingsregen und der Schneeschmelze steht jetzt Wasser im Keller der Mühle und er muss noch mehr Geld ausgeben, um eine Pumpe und eine neue Entwässerungsanlage einzubauen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann ja verstehen , was er da versucht. Ich kann ja nachvollziehen, was er da für eine Vision hat, was ihm vorschwebt. Aber um ehrlich zu sein, Beth, diese Mühle ist ein verdammtes Geldgrab.«
»Aber vielleicht wird das nicht immer so bleiben«, versuchte ich sie zu trösten.
»Nett von dir, dass du das sagst. Aber … egal, lass uns das Thema wechseln, ja? Bitte.«
»Nun ja«, sagte ich, plötzlich ganz unsicher. »Ich habe da tatsächlich eine Frage an dich.«
»Schieß los.«
»Ich brauche ein Kleid. Eins, das die Leute absolut umhaut.«
»Schwarz oder rot?«
»Hmm. Vielleicht eher schwarz.«
»Komm mit«, sagte sie und ging in Richtung Schlafzimmer. Ich folgte ihr, erst zögernd und dann mit unverhohlener Neugier. Ich war vorher schon einmal in ihrem Haus gewesen, bei der Willkommensparty, die sie während ihres ersten Sommers hier gegeben hatten. Und obwohl Kip die Leute gruppenweise durch das Haus geführt und dabei auf das wiederverwertete Bauholz hingewiesen hatte, das von abgerissenen Kaufhäusern in Chicago stammte, oder auf die Industriearmaturen, die sie in stillgelegten Brauereien in Milwaukee aufgetrieben hatten, konnte ich mich nicht erinnern, auch ihr Schlafzimmer gesehen zu haben.
Es war schlicht, modern und weiß. Auf den beiden Nachttischen standen Vasen mit Narzissen. Das Bett war perfekt gemacht und am Kopfteil lag eine Reihe Zierkissen, wie auf eine Girlande aufgefädelt. Der Raum war für meinen Geschmack zu groß und zu leer, und dann musste ich an mein eigenes Schlafzimmer denken, unser Schlafzimmer zu Hause. Die Wände bogen sich förmlich unter der Last unzähliger Familienfotos, in den Ecken standen abgewetzte Stühle, auf Henrys Nachttisch lag ein riesiger Stapel von Krimis neben dem alten Radiowecker, auf meinem waren Liebesromane und Taschentücher verstreut. Überall lagen Kleider herum, jede Fläche war mit irgendetwas zugedeckt: Elterneinverständnisformulare von der Schule, Kinderbücher, Parfümflakons, Rasierwasserflaschen, Schuhanzieherund Gesichtscremes. Nicht mal eine Sekunde beneidete ich Felicia um ihr Leben. Es schien mir ebenso modern wie steril zu sein. Unseres, das war ein Zuhause . Ein Nest. Ein Ort, an dem in vollen Zügen gelebt und geliebt wurde. Vielleicht ist es ja gut, wenn man ab und zu einen Blick auf das Leben anderer Leute wirft. Auf mich hat das jedenfalls die Wirkung, dass sich mein eigenes Leben wie etwas sehr Kostbares anfühlt.
»Hier«, sagte Felicia schließlich, als sie wieder aus den Tiefen ihres riesigen begehbaren Kleiderschranks auftauchte. »Probier das mal an.« Sie hielt mir ein Kleid an den Körper. Mir wurde plötzlich bewusst, wie verschwitzt ich war, und ich wich zurück. Sie kam mir nach, trat auf mich zu. »Sei nicht albern – nun komm schon.«
»Felicia, das geht doch nicht.«
»Bitte. Probier’s an. Wenn’s dir nicht gefällt, dann bringe ich es eben zum Wohltätigkeitsladen.«
Ich gab nach. Und das Kleid saß perfekt. Für den Rest des Morgens plauderten wir gemütlich und dann bot sie mir netterweise an, mich nach Hause zu fahren. Als ich während der Fahrt aus dem Fenster ihres Land Rover blickte, dachte ich darüber nach, dass sie und Kip nicht zu Lees Hochzeit eingeladen waren. Und obwohl das völlig nachvollziehbar war, schien es mir ihr gegenüber doch auch unfair zu sein. Diese Frau hatte Lee und Chloe nichts Böses getan und war zu mir immer nur nett und freundlich gewesen. Um ehrlich zu sein, sogar netter als ich zu ihr. Trotz all unserer angeblichen
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