Shotgun Lovesongs
uns die Magnetkarte zum Öffnen seiner Zimmertür, als sei sie eine goldene Eintrittskarte, und sagte: »Manchmal ziehe ich bei meinen Nickerchen noch nicht mal die Stiefel aus.«
Ich genieße es nicht gerade, von zu Hause wegzugehen und meine Kinder zurückzulassen, die Vertrautheit meines Bettes, meiner Kaffeemaschine, meiner Hausschuhe aufzugeben. Aber ich liebe es, in einem Hotel zu sein.
Oben in unserem Zimmer streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und ging sofort zum Fenster. Unter uns sah man die Klima- und Lüftungsanlage eines niedrigeren Gebäudes und an der Seite die skelettartige Feuertreppe. Über uns: riesige Wolkenkratzer, zusammengeballte Taubenschwärme, die durch die Luft schossen, und ein einzelnes Zeitungsblatt, das der Wind aus den heißen StraßenHunderte von Metern unter uns irgendwie hierhochgeweht hatte. Der Lärm der Autohupen riss keine Sekunde lang ab, auch wenn er durch die Dreifachverglasung der Zimmerfenster ein wenig gedämpft wurde. Es klang wie eine versteckte Alarmanlage oder ein Telefon, das in den Tiefen einer riesigen Lagerhalle unablässig vor sich hin klingelte. Ich rief meine Eltern an. Ich musste unbedingt wissen, ob unseren Kindern nicht womöglich etwas Schreckliches zugestoßen war.
»Uns geht’s wunderbar«, sagte mein Vater. »Seitdem ihr weg seid, haben wir die ganze Zeit nur Pfannkuchen mit Schokoladenstreuseln und Ahornsirup gegessen.«
»Und bei den Kindern ist alles okay?«
»Kinder?«, rief mein Vater in den Raum hinein. »Bei euch alles okay?«
Ich hörte keine Antwort im Hintergrund.
»Denen geht’s gut«, sagte er. »Wir wollen vielleicht nach Eau Claire fahren und uns im Einkaufszentrum einen Film anschauen oder so was.«
»Das fänden sie bestimmt toll.«
»Wie ist es in New York? Deine Mutter und ich sind ewig nicht mehr dort gewesen, bei unserem letzten Mal warst du noch nicht mal geboren. Ist dort immer noch alles voller Nutten und Pornokinos?«
»Ach, Papa, ich glaube, so sieht’s hier schon lange nicht mehr aus.« Während ich auf der Bettkante saß, strich ich mit der Hand über die Decke und betrachtete den nagelneuen Fernseher und die gerahmten Kunstdrucke an den Wänden. Im Badezimmer war Henry gerade dabei, mit einer kleinen Schere seine Nasenhaare zu stutzen. Er hatte das Hemd ausgezogen und betrachtete sich im Spiegel. Ich sah ihm dabei zu, wie er sich mit den Händen durch dasgraue Haar an seinen Schläfen strich. Er bedachte sein Spiegelbild mit einem Stirnrunzeln.
»Wir kommen schon klar, Schätzchen«, sagte mein Vater. »Habt ihr mal euren Spaß, okay? Und wenn du nichts von uns hörst, dann heißt das wahrscheinlich, dass wir alle noch leben und es uns wunderbar geht.«
»Wahrscheinlich?«
»Also dann!«, sagte er fröhlich und legte auf.
»Ich hab euch lieb«, sagte ich ins Freizeichen.
Henry kam aus dem Bad, mit einem Stück Zahnseide um zwei Finger gewickelt. Er sägte damit an seinen Zähnen und dem Zahnfleisch herum, als wäre es ein Geigenbogen. »Hast du Lust auf einen Spaziergang?«
Ich dachte während dessen an Ronny und Lucy auf ihrem Zimmer, und ich muss zugeben, dass mich die Vorstellung einen Moment lang anturnte, wie sich Cowboy und Stripperin in einem New Yorker Hotelzimmer die Seele aus dem Leib vögelten; die Cowboystiefel und Stöckelschuhe noch an den Füßen, während sie das anonyme Bettgestell bis zum Äußersten beanspruchten. Sie schienen in dieser Hinsicht gut zueinander zu passen, obwohl ich nicht behaupten kann, groß darüber nachgedacht zu haben, mit was für einer Frau Ronny wohl zusammenkommen könnte, denn um ehrlich zu sein, hatte ich meine Zweifel gehabt, dass er überhaupt je jemanden finden würde.
»Ja«, sagte ich. »Gute Idee. Ich würde mir gerne die Beine vertreten.«
»Ziehst du die Turnschuhe an?«, fragte Henry.
»Na ja, es bleiben nur die oder die hochhackigen Schuhe, die ich für die Hochzeit dabeihabe.«
Er nickte. »Ich weiß. Ich habe das gleiche Problem. Aberich möchte nicht so gerne wie ein Trottel aussehen. Das ist ein ziemlich feudaler Laden hier.«
»Also gut«, sagte ich, »dann lass uns beide wie Trottel aussehen.« Ich zog ihn zum Bett. »Aber vielleicht sollten wir uns erst einmal um eine andere Sache kümmern.«
Wir fuhren mit dem Aufzug hinunter in die Lobby, trugen unsere Turnschuhe, hielten uns an den Händen und fühlten uns, als hätten wir gerade etwas Großartiges zustande gebracht. Was ja auch stimmte. Es ist zwar nicht sehr romantisch, aber wenn
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