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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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Zeit, als sie verschwand, hatte ich bereits selbst einen Führerschein, genau wie alle meine Freunde. Das waren die Nächte und Wochenenden, wo wir mit einer Kühlbox voller Bartles & Jaymes-Flaschen oder einer Flasche Southern Comfort und einem Zwölferpack Cola durch die Gegend fuhren.
    ...
    Wir blieben im Verkehr stecken. Ich bin noch nicht in sehr vielen Großstädten gewesen – nur in Minneapolis, St. Paul, Milwaukee, Chicago und Denver. Aber der Verkehr von Minnesota ist bemerkenswert, weil hier niemand hupt. Es kann manchmal richtig unheimlich sein, wenn man mitten in einem Stau steht, und alles ist vollkommen still, als hätte jemand der ganzen Welt einen Schalldämpfer übergestülpt. Es erinnert an das entsetzte Schweigen im Innern eines Fahrzeugs, das auf dem Highway an einer schrecklichen Unfallstelle vorüberfährt. Ich war froh über die Stille an diesem Morgen, froh über die Erinnerungen an Miss Puckett, denn ansonsten sah ich Lees Hochzeit nicht gerade mit Begeisterung entgegen und das machte mich ein wenig traurig. Neben mir hatten Ronny und Lucy die Köpfe zusammengesteckt und turtelten im Flüsterton miteinander, während vorne Henry und Kip mit ihren Händen gestikulierten und etwas über Baseball, Mais-Terminkontrakte und Steuern vor sich hin murmelten.
    Ich glaube, ich war früher einmal in Lee verliebt, und wahrscheinlich könnten viele Frauen in unserem Ort und mittlerweile auf der ganzen Welt dasselbe von sich sagen. Aber anders als bei ihnen war er, glaube ich, auch in mich verliebt, auch wenn die Geschichte nach all der Zeit irgendwie nebelhaft geworden ist. Alles, was mir bleibt, sind Erinnerungen, die zehn oder mehr Jahre zurückliegen, aus einer Zeit, bevor Henry und ich geheiratet haben, bevor die Kinder geboren wurden, als ich noch jünger war und mir die Begrenzungen meines Lebens noch wesentlich flexibler und verschwommener vorkamen. Als es noch so aussah, als bestünde eine Möglichkeit, dass ich nicht mein ganzes Leben an ein und demselben Ort verbringen würde.
    Während ich über ihn nachdachte, über Lee, über mich und über diese Zeit in meinem Leben, als ich jünger war, spürte ich, wie ich rot wurde. Die Röte stieg von meiner Brust bis hinauf in mein Gesicht. Um ehrlich zu sein, ich denke nicht so oft darüber nach und ich versuche, auch die Gedanken an Lee nicht in diese Bahnen zu lenken. Aber manchmal passiert es eben doch. Damals hing alles irgendwie in der Schwebe, waren die Dinge nicht scharf umrissen, und falls man mich gefragt hätte, wen ich heiraten würde, dann bin ich sicher, ich hätte »Henry« geantwortet, weil ich eine Frau bin, die praktisch denkt, und weil Henry einfach ein so guter Mensch ist. Aber ich glaube, ich hätte mir damals auch einen anderen Weg vorstellen können, einen ganz anderen Weg, ein Leben, in dem ich nun mit Lee verheiratet wäre. Ich male mir manchmal immer noch aus, wie sich das wohl angefühlt hätte: durch die ganze Welt zu reisen und völlig anders behandelt zu werden als normale Menschen, auf einem roten Teppich vor den Kameras zu posieren, statt in einem Supermarkt zustehen und in irgendeinem Hochglanzmagazin ein Foto von Lee nur anzuschauen, auf dem eine andere Frau an seinem Arm hängt.
    Und wie wäre wohl das Bett, in dem wir zusammen liegen würden? Würden wir Kinder haben? Und würde er Lieder über mich schreiben? Und würden die Frauen im Ort mich anders behandeln, hinter vorgehaltener Hand flüstern und mich starr anlächeln, während ich meine Einkäufe mit Fünfzigdollarscheinen bezahle? Oder wäre alles genau wie jetzt? Würden Lee und ich Henry in seinem Haus besuchen und mit ihm und seiner Frau zu Abend essen, während ihre Kinder uns umschwirren, und würde ich dann Henry ansehen und eine unbestimmte, grenzenlose Traurigkeit in ihm entdecken, eine Leere, dort, wo eigentlich mein Platz in seinem Leben hätte sein sollen?
    Der Cadillac rollte wieder weiter und bald hielten wir auch schon vor dem Terminal. Die Luft draußen war heiß und voller Abgase und es hing der schwache Geruch nach Zimtkaugummis und hastig gerauchten letzten Zigaretten darin. Henry holte unser Gepäck aus dem Kofferraum und schüttelte Kip die Hand. Ronny und Lucy standen an der Bordsteinkante und verlagerten ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Ihre Kleidung wirkte ein wenig grell, als gehörten sie zu einer Reisegruppe auf dem Weg nach Branson oder Gatlinburg oder irgendeiner anderen unbedeutenden Kleinstadt. Ich umarmte Kip und er gab

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