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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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konnte.
    Er schielte auf die Karte, die da so sauber und weiß in seiner rissigen, schmutzigen Hand lag. »Ein Broker«, sagte er. Er schnipste mit seinem dicken Zeigefinger gegen das Papier. Es klang, als hätte sich eine Baseballkappe in einer Radspeiche verfangen.
    »Ja, das stimmt.« Die Zahlen an der Zapfsäule bewegten sich kaum, liefen langsamer als der Zeiger an einer Armbanduhr.
    »Warum tun Sie nicht mal was dafür, dass ich bessere Preise bekomme?«, fragte er. »War nur’n Scherz«, sagte er dann sofort.
    Er starrte mich mit seinen blauen Augen an, die so bleich waren, dass es schien, als könnten sie jeden Moment aus seinem Gesicht auf den trockenen Boden unter seinen Füßen tropfen.
    »Na, kommen Sie mich mal besuchen«, sagte ich und schaute auf seine linke Hand, an der nur noch vier Finger waren. Am noch vorhandenen Ringfinger steckte ein goldener Ehering, der so dreckig war, dass man meinen konnte, er stamme aus einem uralten Schatz, den er eben erstausgegraben hatte. »Bringen Sie Ihre Frau mit«, sagte ich, einfach voraussetzend, dass er kein Witwer war.
    Dann schwiegen wir eine Weile. Man konnte das Geräusch der Zapfsäule hören, wie sie meinen Tank füllte, und den Wind, der an einer losen Plastikverkleidung rüttelte und ein Blechschild an einer rostigen Kette hin- und herbaumeln ließ. Auf dem Highway neben uns rauschten die riesigen Lastwagen vorbei wie Hochgeschwindigkeitszüge, und zwei Krähen hackten ihre Schnäbel in einen Rehkadaver, während der Fahrtwind des unablässigen Verkehrs ihre Federn wild zerzauste. Doch die Vögel schienen das kaum zu bemerken.
    »Nun«, sagte der Farmer und hielt meine Karte in die Luft. »Vielleicht tun wir das ja wirklich einmal. Ja, wir sollten Sie mal anrufen.«
    »Wie heißen Sie denn?«, fragte ich. »Ich habe Ihnen meine Karte gegeben, aber Ihren Namen haben Sie mir nicht gesagt.«
    »Harvey« sagte er. »Harvey Bunyan.« Er durchwühlte seine Taschen und holte dann einen Stift und ein kleines Notizbuch mit Spiralbindung hervor. Er schrieb seinen Namen und seine Telefonnummer in säuberlichen Buchstaben auf eines der Blätter.
    »Da. Jetzt haben Sie auch meine Visitenkarte.«
    Er wischte sich die Handflächen an seinem Overall ab, steckte sich meine Karte nach ein paar Fehlversuchen in seine Brusttasche und dann schüttelten wir uns die Hände.
    »Ich wünsche Ihnen eine sichere Reise«, sagte er.
    »Ihnen auch«, sagte ich, auch wenn ich es sofort bereute. Der Mann war ganz offensichtlich noch nie in seinem Leben irgendwohin gereist. Zu Hause, in Little Wing, hatte ich diese Art von Gesicht Hunderte Male an Männern gesehen,die so alt waren wie mein Vater oder auch älter. Ihre Augen waren so daran gewöhnt, die Sonne wegzublinzeln, dass man hätte schwören können, sie seien kurzsichtig wie Wühlmäuse. Ihre Welt befand sich immer genau dort, direkt vor ihren Füßen. In ihren Schlafzimmern, ihren Küchen, ihren Fernsehern. Draußen auf den Feldern, im Freien, unmittelbar vor ihnen, oder, was noch wichtiger war, hinter den Schlusslichtern ihrer Traktoren.
    Über den Mississippi hinweg und rüber nach Iowa. Achtzig, neunzig, hundert Meilen pro Stunde. Vom Highway runter auf Schotterwege, im Wettrennen mit den Wolken, mit den Pferden auf ihren Weiden. Während ich immer weiter nach Westen fuhr, hatte ich das Gefühl, ich könnte die Sonne besiegen, könnte ewig gegen die Umdrehung des Planeten anfahren, die Zeit selbst verlangsamen. Ich hatte Harveys »Visitenkarte« wohl schon verloren, bevor ich überhaupt Nevada erreichte. Wahrscheinlich in irgendeinem Fastfoodladen in Iowa City oder Des Moines, wo ich angehalten hatte und seinen Namen und seine Telefonnummer zusammen mit dem anderen Zeugs, das sich in meinen Taschen befand, in den Müll geworfen hatte; zusammen mit dem Kaugummipapier, den klebrigen Münzen und den Tankquittungen.
    Ich schaffte es bis nach Nebraska. Fuhr vom Highway ab, bevor der Sturm die Straßengräben mit Wasser füllte. Schaute dem Nachthimmel zu, während er sich selbst aufriss wie ein gesprungenes Fenster. Im Motelzimmer aß ich irgendwelche Snacks, die ich an den Tankstellen gekauft hatte, trank lauwarmes Bier und lauschte den Fernsehgeräten in den Nachbarzimmern, den Liebenden, ihren Streitigkeiten, Versöhnungen.
    Am nächsten Morgen begann ich meine Fahrt zurück nach Osten, sieben Stunden geradewegs in die aufgehende Sonne hinein. Mein Gesicht war so verbrannt, dass man hätte meinen können, ich hätte in Las

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