Shutdown
nach Parlier zurück, ans Grab ihrer Mutter, das sie seit hundert Jahren nicht besucht hatte aus Angst vor den Gespenstern ihrer Kindheit. Wo steckte Adam, das Monster? Sie wertete es als gutes Zeichen, Frank nicht danach gefragt zu haben.
Jezzus baute das Experiment vorsichtig ab und betrachtete das Telefon. Weiße Linien unzähliger Fingerabdrücke bedeckten die ehemals golden glänzende Oberfläche.
»Ein schönes Chaos, wie ich vermutet habe«, sagte er.
»Und eine gute Auswahl«, schmunzelte sie.
Es klang optimistischer als sie sich fühlte beim Anblick des abstrakten Gemäldes auf Tates iPhone.
»Man müsste wissen, wer das Ding angefasst hat«, murmelte er nachdenklich.
»Frank und mich kannst du ausschließen. Tate selbst wird es kaum je aus der Hand gegeben haben. Bleiben nur noch fremde Spuren von Rebecca. Die müssten die Letzten sein.«
Jezzus betrachtete sein Werk eingehend von allen Seiten, bevor er seinen Befund verkündete:
»Sieben ältere Abdrücke kann ich identifizieren. Die müssen reichen. Du kriegst eine Aufnahme von jedem. Der Rest ist dein Bier.«
»O. K., sieh zu, dass ein Daumen dabei ist.«
Er bestäubte die ausgesuchten Stellen mit mikroskopisch feinem Kohlepulver, das die Struktur der Fingerspuren so deutlich hervorhob, als wären sie schwarz aufgedruckt. Sobald sie die Plättchen mit den reproduzierten Fingerabdrücken in der Hand hielt, kehrte ihr Optimismus zurück. Sie schlief entspannt, bis die Sonne fast im Zenit stand am nächsten Morgen.
San Francisco, Kalifornien
Der schlanke, junge Mann im Straßenanzug, mit Pilotenbrille und keck tief in die Stirn gezogener Baskenmütze fiel nicht sonderlich auf unter dem bunten Volk im Foyer des Medienhauses an der Sansome Street. Er hielt den Kopf gesenkt, gab vor zu telefonieren. Er mied den Empfangsschalter, näherte sich stattdessen unbemerkt den Besucher-Toiletten.
Jen atmete auf, als sie die Kabinentür abschloss. Der erste Meilenstein ihres Plans war erreicht: Sie war drin. Sie setzte sich auf die Schüssel und versuchte, sich an den Geruch zu gewöhnen. Zeit genug hatte sie. Das Männerklo sah unbenutzt aus. Die Papierrolle war voll, Deckel und Türbeschläge glänzten wie neu, aber ihre Nase sah Dinge, die andere Leute nicht rochen. Warum gab es keine Nasenlider? Linda hatte recht: Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion.
Sie nahm an, in diesem Haus auch nachts Leute bei der Arbeit anzutreffen. Nachrichten hielten sich nicht an Ruhezeiten. Dennoch würde im Eingangsbereich und in den meisten Büros Ruhe einkehren nach sieben oder acht Uhr abends. Mit gefährlichen Begegnungen musste sie vor allem auf den Etagen des Senders rechnen, doch dort hatte sie nichts verloren. Sie würde sich auf die Teppichetage im 19. Stock konzentrieren, auf die Büros von Carmen Tate und ihrem Boss.
Aus Langeweile führte sie auf ihrem Handy ein Protokoll der WC-Besuche, komplett mit Zeitstempel, Geruchsfarbe des Klienten, Art der Verrichtung, Aufenthaltsdauer und in einigen Fällen Bemerkungen zu Alter und Herkunft, Informationen, die sie aus Gesprächen und Selbstgesprächen ableitete. Die Liste wuchs immerhin auf achtzehn Einträge bis abends um sieben. Es gab Häufungen zu gewissen Zeiten, Klumpennotdurft sozusagen, aber die wenigen Daten waren statistisch nicht relevant, wie Emma sich wohl ausgedrückt hätte. Sie verzichtete deshalb auf die Erstellung informativer Grafiken.
Um acht Uhr erlosch das Licht. Nur der Bildschirm ihres Telefons verbreitete gespenstisch blaues Licht. Sie schaltete das Gerät erschrocken aus und steckte es ein. Die Bewegung blieb dem Sensor an der Decke nicht verborgen. Das Licht ging wieder an. Ein leiser Fluch entschlüpfte ihr. In einem Atemzug zog sie die Beine hoch, stellte sich geduckt auf die Schüssel, entriegelte das Schloss und öffnete die Kabinentür einen Spaltbreit. Sie verharrte bewegungslos in dieser Haltung für unter Dreißigjährige, bis der Timer das Licht wieder löschte. Vom Foyer her drangen kaum mehr Geräusche bis zu ihr. Es war Zeit zu handeln. Sie musste den Versuch wagen. Der Sensor reagierte sofort, als sie von der Schüssel stieg.
Hell beleuchtet wie im Xenon-Licht des Bühnenscheinwerfers trat Jerry Waller aus der Kabine. Draußen näherten sich Schritte. Der junge Mann fand kaum Zeit, sich wieder zu verstecken, bevor die Tür aufgestoßen wurde.
»Jemand da?«, fragte eine voluminöse Bassstimme.
Die schweren Schritte kamen noch näher, dann blieb der Mann stehen. Jen
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