Shutdown
sein Leben bestimmte, wie die Rolex die Glückseligen draußen durch ihre eigene Hölle hetzte. Laute Flüche gesellten sich zu den Rufen. Sie hallten durch die Bauchhöhle des North Block, brachen sich an den Metallstegen, den Treppen und Wänden. Der Lärm schwoll rasch an. Rhythmische Schläge von Metall auf Metall pflanzten sich von Zelle zu Zelle fort, bis das ganze Gebäude zu zittern schien vom Hämmern und Stampfen der unsichtbaren Verdammten.
»Was zum Teufel ...«, krächzte Reggie heiser.
Er wälzte sich träge auf die Seite und starrte blinzelnd in den Lichtkegel der Lampe.
»Lass den Scheiß!«
Adam knipste das Licht aus. Die Finsternis wurde noch undurchdringlicher für einen Augenblick. Zeit genug, den Speer unter Reggies Matratze hervorzuziehen und unter seiner eigenen Decke zu verstecken. Man konnte nie wissen. Sein Zellengenosse war ein ›Lifer‹. Er würde hier nie mehr lebend rauskommen, hatte nichts zu verlieren.
»Wieder so ein verfickter Blackout?«, schimpfte Reggie.
Er wuchtete seinen massigen Körper von der Pritsche, dass Adam an die Wand prallte.
»Sorry, Priester«, brummte er und begann, mit bloßen Fäusten an die Tür zu poltern.
Die dünne Stimme eines Megafons versuchte sich Gehör zu verschaffen, doch sie ging sofort unter im Stampfen und Toben des wütenden Mobs.
»Halleluja«, sagte Adam nur.
Die Leute regten sich völlig sinnlos über etwas auf, was sie sowieso nicht ändern konnten. Dennoch sparte er sich jeden Kommentar, um Reggie nicht unnötig zu reizen. Er hätte jetzt gerne in seiner Bibel gelesen, aber Batterien waren ein kostbares Gut. Das Konzert wollte nicht enden, bis Reggie mit einem Mal von der Tür abließ und das Ohr an den Sehschlitz presste.
»Ich will verdammt sein ...«, rief er aus, »die öffnen die Zellen! Priester, hast du verstanden, was ich sagte?«
»Träum weiter. Die werden sicher nicht ...«
Er stockte. Draußen auf dem Gang näherte sich eine johlende Meute, als hetzten Hooligans ihre Gegner an den Zellen entlang. Fußtritte erschütterten die Tür. Der Bolzen sprang mit metallischem Klick aus der Verankerung. Der Riegel glitt ächzend zurück. Die Tür sprang einen Spaltbreit auf wie sonst am frühen Morgen, wenn es Zeit war, den Dienst in der Küche, der Wäscherei oder dem Scheißhaus anzutreten. Auf dem Gang standen diesmal keine Wärter. Reggie zögerte keine Sekunde. Die schwere Metalltür flog auf und er war draußen. Fahles, unruhiges Licht ferner Handlampen umrahmte seine Silhouette.
»Worauf wartest du, Priester?«, rief er, bevor seine schwarze Gestalt mit der Meute verschmolz.
Adam griff nach Reggies Speer, dem die Spitze fehlte. Er bestand aus nichts anderem als Zeitschriftenpapier und Tuchfetzen, die sein ›Cellie‹ in zäher Arbeit, Schicht um Schicht, geduldig immer wieder befeuchtet und getrocknet, zu einem stahlharten Schlagstock gerollt hatte. Auch ohne Spitze war er eine tödliche Waffe wie ein Baseballschläger. Mit dem Stock in der Faust trat er aus der Zelle in den finsteren Bauch des Blocks. Schemenhafte Gestalten rannten auf den Galerien und im Abgrund drei Stockwerke unter ihm durcheinander, kaum beleuchtet von den zwei Taschenlampen der Officers, die es rechtzeitig auf die Überwachungsplattform geschafft hatten. Niemand hörte auf ihre Anweisungen aus dem Megafon, dessen Batterie in den letzten Zügen lag. Gummischrot und Tränengas-Petarden nützten nichts gegen unsichtbare Ziele. Sie konnten nichts weiter tun, als verzweifelt in ihre Trillerpfeifen zu blasen. Von den drei Kollegen, die unten ihre Runden absolvierten, war nichts zu sehen und zu hören.
»Die Main Street ist offen!«, schrie einer.
Der Hexenkessel explodierte. Die schwarze Masse unter ihm begann zu fließen. Wie eine Schlammlawine wälzte sie sich unaufhaltsam zum Ausgang, durch das Tor, das ohne elektronische Sperre nur noch Kulisse war. Er zählte sich nicht zu dieser Masse und wandte sich ab. Ein schwacher Lichtschein streifte die endlose Reihe der offenen Zellentüren. Offene Gräber, die Toten auferstanden zum Jüngsten Gericht, so stand es in seiner Bibel. Er hatte die Stelle bei Johannes, Kapitel 5, oft genug gelesen und nächtelang darüber gebrütet.
Denn es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts.
Tot waren sie alle in diesem
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