Shutter Island
verschwammen. Dann thronte plötzlich Ashecliffe Hospital über dem steilen Felsenufer und blickte die Westküste hinab.
»Hast du ein Mädchen, Teddy? Bist du verheiratet?«, fragte Chuck.
»War ich mal«, sagte Teddy und hatte Dolores’ Blick vor Augen, den sie ihm einmal in den Flitterwochen zugeworfen hatte: der Kopf ihm zugewandt, das Kinn fast auf der nackten Schulter, die Rückenmuskeln unter der Haut in Bewegung. »Meine Frau ist tot.«
Chuck löste sich von der Reling, sein Hals färbte sich rot. »Oje!«
»Schon gut«, sagte Teddy.
»Nein, nein.« Chuck hob abwehrend die Hand. »Ähm … das hatte mir schon einer erzählt. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das vergessen konnte. Ist schon ein paar Jahre her, nicht wahr?«
Teddy nickte.
»Ach, Mensch, Teddy. Ich komme mir wirklich bescheuert vor. Echt. Tut mir unglaublich Leid.«
Wieder sah Teddy Dolores vor sich, wie sie in einem alten Diensthemd von ihm durch den Flur ging und summend die Küche betrat, und eine vertraute Müdigkeit stieg ihm in die Knochen. Alles hätte er lieber getan – er wäre sogar im Meer geschwommen –, als über Dolores zu sprechen, über die Tatsache, dass sie einunddreißig Jahre auf dieser Welt gewesen war und dann verschwand. Einfach so. Als er morgens zur Arbeit ging, war sie noch da. Nachmittags nicht mehr.
Aber es war wohl dasselbe wie mit Chucks Narbe: Die Geschichte wollte erzählt werden, sonst würde es nicht weitergehen, sonst würden sie immer zwischen ihnen stehen, die Fragen nach dem Warum, dem Wie und Wo.
Dolores war seit zwei Jahren tot, aber nachts, in Teddys Träumen, wurde sie lebendig, und manchmal meinte er morgens nach dem Aufwachen minutenlang, sie sei in der Küche oder hätte ihren Kaffee mit nach draußen auf die kleine Veranda ihres Apartments auf der Buttonwood genommen. Es war ein grausames Täuschungsmanöver seines Gehirns, ja, aber Teddy hatte dessen Logik schon vor langer Zeit akzeptiert – aufwachen war schließlich so ähnlich wie geboren werden. Geschichtslos stieg man an die Oberfläche, ordnete blinzelnd und gähnend die Vergangenheit, schob die Puzzleteile in chronologische Reihenfolge und wappnete sich schließlich für die Gegenwart.
Weitaus grausamer war, dass scheinbar willkürliche Gegenstände verborgene Erinnerungen an seine Frau wie Streichhölzer aufflackern ließen. Nie konnte er vorhersehen, was das für Dinge waren – ein Salzstreuer, der Gang einer Unbekannten auf einer belebten Straße, eine Coca-Cola-Flasche, Lippenstift an einem Glas, ein Zierkissen.
Doch kein Verbindungsglied hatte eine derart durchschlagende Wirkung und war weniger einleuchtend als Wasser: aus dem Hahn tropfend, vom Himmel rauschend, in einer Pfütze am Straßenrand oder wie jetzt als Fläche meilenweit um ihn herum.
Teddy erklärte: »In unserem Mietshaus hat es gebrannt. Ich war bei der Arbeit. Vier Menschen starben. Unter anderem meine Frau. Es war der Rauch, Chuck, nicht das Feuer. Sie hatte keine Schmerzen. Angst vielleicht. Aber keine Schmerzen. Das ist wichtig.«
Chuck trank noch einen Schluck aus der Feldflasche und bot sie Teddy an.
Teddy schüttelte den Kopf. »Hab aufgehört. Nach dem Brand. Es hat sie immer gestört, verstehst du? Sie meinte immer, Soldaten und Bullen würden zu viel trinken. Deshalb …« Er spürte, dass Chuck neben ihm vor Verlegenheit kleiner wurde. »Man lernt, damit zu leben, Chuck. Man hat ja keine Wahl. Das ist wie mit dem ganzen Dreck, den man im Krieg gesehen hast. Weißt du noch?«
Chuck nickte, und im Rückblick wurden seine Augen kurz schmal, starrten in die Ferne.
»Man macht es einfach«, sagte Teddy leise.
»Klar«, sagte Chuck schließlich, das Gesicht noch immer gerötet.
Wie durch Zauberhand tauchte der Anleger auf. Er ragte ins Meer, aus der Entfernung ein Streifen Kaugummi, substanzlos, grau.
Das Erbrechen hatte Teddy ausgetrocknet, vielleicht hatten ihn auch die letzten Minuten erschöpft; natürlich hatte er gelernt, es zu ertragen, sie zu ertragen, doch das Gewicht drückte ihn manchmal nieder. Links im Kopf, direkt hinter dem Auge, setzte sich ein dumpfer Schmerz fest, als würde ein alter Löffel dagegengedrückt. Er konnte noch nicht beurteilen, ob es lediglich eine Nebenwirkung der Austrocknung war, beginnende Kopfschmerzen, oder ob es die ersten Anzeichen von etwas Schlimmerem waren, von den Migräneanfällen, die ihn seit seiner Jugend plagten. Sie waren mitunter so heftig, dass sie ihm vorübergehend die Sehkraft raubten,
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