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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wieder ab nach Hause. Ja, es kam mir vor, als läge etwas vor mir, auf das ich schon mein ganzes Leben lang gewartet hatte, etwas Großes und Bedeutendes.

    Und so kam ich in den Knast, genauer gesagt ein Gebäude, das »Steinkasten« hieß, ein großes, altes Gefängnis aus der Zarenzeit mit mehreren Blocks und Abteilungen. Jedes der drei Stockwerke hatte fünfzig Räume, alle gleich groß, jeweils siebzig Quadratmeter. In jedem Raum gab es zwei Fenster, besser gesagt zwei Löcher ohne Rahmen oder Glasscheiben, nur ein von außen aufgeschweißtes Eisenblech mit kleinen Öffnungen, damit ein wenig Luft hereinkam.
    Sie führten mich zu einem Raum im dritten Stock, die Eisentür öffnete sich, und der Wärter sagte:
    »Los, tritt ein ohne Angst, komm heraus ohne Tränen ...«
    Ich machte einen Schritt, und hinter mir schloss sich lärmend die Tür. Ich schaute und traute meinen Augen nicht.
    Der Raum stand voller dreistöckiger Holzbetten, eins am anderen, kaum Platz dazwischen, gerade so viel, dass man sich hindurchzwängen konnte. Die Jungen saßen auf den Betten oder liefen herum, nackt und verschwitzt, und die Luft war erfüllt vom Gestank der Latrine, von Zigarettenrauch und noch einem anderen widerwärtigen Geruch, dem Geruch eines dreckigen, nassen Putzlappens, der vor sich hin faulte.
    Von dem Raum war nur die Hälfte zu erkennen: Etwa anderthalb Meter über dem Boden wurde die Luft immer trüber und ballte sich zu einer großen Dampfwolke.
    Ich stand da und überlegte, was zu tun war. Ich kannte die Gefängnisregeln genau, ich wusste, dass ich ohne die Erlaubnis derjenigen, die in der Zelle das Sagen hatten, keinen einzigen Schritt machen durfte, aber ich konnte niemanden entdecken, der für meine Ankunft Interesse zeigte. Außerdem wurde meine Kleidung immer schwerer, wegen der Feuchtigkeit, die in der Zelle herrschte. Plötzlich spürte ich, wie mir etwas auf den Kopf fiel, ich hob die Hand, um das Etwas zu entfernen, aber schon fielen mir noch mehr davon auf die Schultern. Ich machte eine Bewegung mit dem Körper, um sie abzuschütteln.
    »Keine Bange, sind nur Kakerlaken ... Da an der Tür gibt’s davon jede Menge, aber zu uns rein kommen sie nicht, weil wir Gift unter die Pritschen streuen ...«
    Ich schaute in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und sah einen abgemagerten Jungen in schmutzigen nassen Unterhosen, mit kahlem Schädel und Brille, die Vorderzähne waren ausgefallen. Ich war nicht imstande, ihm zu antworten, ich fühlte mich wie in einer Blase.
    »Ich heiße Zwerg, ich bin hier der Schnyr . Suchst du wen? Sag’s mir, und ich finde ihn für dich.« Er kam ein wenig näher und sah sich die Tätowierung auf meinem rechten Arm an. Im Verbrecherjargon bedeutet Schnyr »Huscher«: Huscher gibt es in allen russischen Gefängnissen, Leute, die keiner respektiert, die nicht als ehrbare Kriminelle angesehen werden, Sklaven der ganzen Zelle, die Botschaften von einem Kriminellen zum anderen überbringen.
    »Sind hier welche aus Sibirien?«, fragte ich ihn kühl, damit er gleich verstand, dass er Abstand zu wahren hatte.
    »Und ob: Filat der Weiße aus Magadan, Kerja der Jakute aus Urengoj ...«
    »Das reicht«, unterbrach ich ihn unhöflich. »Lauf und sag ihnen, dass ein Bruder eingetroffen ist. Nicolai Kolima aus Bender ...«
    Der Schnyr verschwand sofort im Labyrinth der Pritschen. Während er von einem Feldbett zum nächsten ging, hörte ich ihn sagen:
    »Ein Neuer, aus Sibirien ... Ein Sibirer angekommen, noch einer ... Ein Sibirer, aus Bender, gerade angekommen ...«
    Im Nu wusste die ganze Zelle Bescheid.
    Ein paar Minuten später sprang Zwerg wieder hinter den Betten hervor. Er lehnte sich an die Wand und blickte auf den Bereich, aus dem er gerade gekommen war. Acht Jungen kamen von dort und bauten sich vor mir auf. Der in der Mitte sprach, er hatte zwei Tätowierungen auf den Händen: Ich betrachtete sie und wusste sofort, dass er zu einer Räuberbande gehörte und aus einer alten sibirischen Urki-Familie stammte.
    »Du bist also Sibirer?«, fragte er mich ganz entspannt.
    »Nicolai Kolima, aus Bender«, erwiderte ich.
    »Ach was, sogar aus Transnistrien ...« Sein Tonfall hatte sich verändert, er war etwas lebhafter geworden.
    »Aus Bender, Unterstadt.«
    »Ich bin Filat aus Magadan, genannt der Weiße. Komm, ich mache dich mit dem Rest der Familie bekannt.«
    Das Jugendgefängnis, in dem ich gelandet war, hatte entgegen meinen Erwartungen überhaupt nichts von dem strengen

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