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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Knast, von dem ich immer gehört hatte und auf den ich seit meiner Kindheit vorbereitet war. In diesem Gefängnis herrschten nicht die kriminellen Gesetze, alles war chaotisch und fern jeglicher gängigen Form von Knastbruderschaft.
    Die schwierigen Lebensbedingungen und die Unfreiheit in einer solch kritischen Phase des Heranwachsens machten alles kompliziert. Die Jugendlichen waren sehr zornig und wurden hier zu wahren Bestien: Sie waren bösartig, sadistisch, verschlagen, mit einer großen Lust, Zerstörung zu säen und alles auszumerzen, was sie an das Leben in Freiheit erinnerte. An diesem Ort war niemand sicher, Gewalt und Wahnsinn waren wie die Flammen eines Feuers, das Geist und Seele verbrannte.
    Jede Zelle beherbergte einhundertfünfzig Jungen. Die Zustände waren verheerend. Die Betten reichten nicht für alle, also wurde in Schichten geschlafen. Es gab nur eine Toilette, im hinteren Bereich der Zelle, und die stank so sehr, dass einem speiübel wurde, wenn man nur in die Nähe kam. Belüftung gab es überhaupt keine, die einzige Luftzufuhr waren die kleinen Löcher in den Eisenblechen vor den beiden Fenstern.
    Man bekam kaum Luft, und darunter litten besonders die schwächeren Jungen, die mit Herz- oder Atemwegserkrankungen: Sie hielten es nicht lange aus, wurden oft bewusstlos und kamen manchmal gar nicht mehr zu sich. Ein paar Wochen nach meiner Ankunft begann ein Junge, der ernste Lungenprobleme hatte, Blut zu spucken. Der Arme bat um etwas zu trinken, aber die anderen stießen ihn nur in eine Ecke und wollten nicht in seine Nähe kommen aus Angst, sich mit TBC anzustecken. Nachdem er eine Nacht auf dem Boden verbracht hatte, in einerBlutlache, die immer größer geworden war, benachrichtigten wir die Gefängnisverwaltung, damit sie ihn in die Krankenabteilung verlegten.
    Ständig brannte Licht, Tag und Nacht: drei schwache Glühbirnen in einem Sarkophag aus Eisen und dickem Glas, der an der Wand festgeschraubt war.
    Der Wasserhahn war ständig aufgedreht, das Wasser, das herausfloss, war weiß wie Milch und fast kochend heiß, im Winter wie im Sommer.
    Die Betten waren dreistöckige, sehr schmale Pritschen. Von den Matratzen war nur noch der Bezug übrig, die Füllung war völlig abgenutzt, man schlief praktisch auf dem blanken Holz. Wegen der brütenden Hitze benutzte niemand eine Decke: Wir nahmen sie als Kopfkissen, denn auch bei den Kissen hatte sich die Füllung längst in Nichts aufgelöst. Ich zog es vor, ohne Kissen zu schlafen, und legte die Decke lieber unter die Matratze, um mir auf dem Holz nicht die Knochen kaputt zu machen.
    Es gab keinen festen Zeitablauf, wir waren Tag und Nacht uns selbst überlassen. Drei Mal täglich brachte man uns Essen, am Morgen ein Glas Tee, nicht mehr als dreckiges Wasser mit einem kleinen Hauch von etwas, das im früheren Leben einmal Tee gewesen sein mochte. Auf das Glas legten sie ein Stück Brot mit einem Kügelchen weißer Butter, die von den Köchen in der Küche, die die Lebensmittel stahlen, als wären sie die Kriminellen und nicht wir, gestreckt worden war.
    Da sich im dritten Stock, also da, wo ich war, der »Sondertrakt« für besonders gefährliche Jugendliche befand, wurde uns beim Frühstück nicht die Ehre von Löffeln oder anderen Metallgegenständen zuteil. Also verstrichen wir die Butter mit dem Finger. Das gebutterte Brot tauchten wir in das Glas mit dem Tee und aßen es wie Gebäck. Zum Schluss tranken wir den Tee mit dem darin schwimmenden Fett, was sehr lecker und nahrhaft war.
    Drei Jungen stellten sich an das Fensterchen in der Tür: Sie nahmen das Essen aus den Händen der Wärter entgegen und verteilten es an die anderen. Etwas von den Kötern entgegenzunehmen galt als »nicht ehrbar«: Wer das tat, opferte sich für alle und wurde im Gegenzug von niemandem angerührt, man ließ sie in Ruhe.
    Mittags aßen wir eine sehr dünne Suppe, in der halbgare Gemüsestückchen herumtrieben wie Raumschiffe im All. Mit etwas Glück fand sich ein Stück Kartoffel, eine Fischgräte oder der Knochen irgendeines Tieres. Das war der erste Gang. Als zweiten gab es einen Teller Kascha : gestoßener, in Wasser gekochter und mit ein wenig Butter vermengter Weizen. Meist taten sie noch kleine Stückchen von etwas hinein, das aussah wie Fleisch, aber nach Schuhsohlen schmeckte. Zu trinken gab es erneut Tee, den gleichen wie am Morgen, nur längst nicht mehr so heiß. Dazu ein Stück Brot und das übliche Kügelchen Butter, und zum Verspeisen der

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