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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Köstlichkeiten bekamen wir sogar einen echten Löffel. Die Löffel waren natürlich abgezählt, und wenn hinterher – nach der Viertelstunde, die für das Mittagessen vorgesehen war – auch nur einer fehlte, bekamen wir Besuch von einem Trupp der »Erziehungsabteilung«, der sich nicht mit Nachforschungen aufhielt, sondern wild auf alle einprügelte, bis der Löffel zurückgegeben, besser gesagt in Richtung Tür geworfen wurde, von jemandem, der lieber unerkannt bleiben wollte, weil er sonst von seinen Zellengenossen gefoltert worden wäre, bis – wie man bei uns in einem solchen Fall sagt – »selbst sein Schatten geblutet hätte«.
    Zum Abendessen gab es wieder Kascha , ein Glas Tee mit Brot und Butter, und wieder Löffel, nur dass die Essenszeit diesmal auf zehn Minuten begrenzt war.
    Um das Essen gab es jede Menge Theater. Kleine Grüppchen von Bastarden, die eine Vorliebe für Gewaltund Quälerei verband, terrorisierten alle, die allein waren, die zu keiner Familie gehörten. Sie schlugen und quälten sie systematisch und forderten von ihnen eine Art »Tribut«, das heißt sie zwangen sie, einen Großteil ihrer Portion abzutreten.
    Wollte man im Jugendgefängnis überleben und in Ruhe gelassen werden, musste man sich einer Familie anschließen. Eine Familie bestand aus einer Gruppe von Personen mit gemeinsamen Merkmalen, häufig die Herkunft. Jede Familie hatte ihre eigenen Regeln, die die Jungen befolgten, um sich das Leben zu erleichtern. In der typischen Familie war es üblich, alles zu teilen: Wer ein Paket von zu Hause bekam, gab den anderen davon ab, so hatten alle immer etwas von draußen. Das war psychologisch sehr wichtig, es half dabei, nicht den Mut zu verlieren.
    Die Mitglieder einer Familie schützten sich gegenseitig, sie aßen und organisierten ihre täglichen Belange gemeinsam.
    Jede Familie stellte also verbindliche Regeln auf, die man einhalten musste. In der sibirischen Familie zum Beispiel waren Glücksspiel und Wetten verboten, ebenso wie gemeinsame Aktivitäten mit Mitgliedern anderer Familien. Und wenn jemand einem Sibirer etwas antat, stürzte sich die ganze Familie auf ihn, selbst wenn es nur einer war, verprügelte ihn und zwang ihn, »die Ski zu wachsen«, das heißt, die Wärter zu bitten, umgehend in eine andere Zelle verlegt zu werden. Als Grund für seine Bitte musste er angeben, sein Leben sei in Gefahr, ein Akt, der als nicht ehrbar galt und dazu führte, dass der arme Teufel nach seiner Verlegung von allen anderen getriezt und verachtet wurde.

    Einmal hatte einer aus unserer Familie, ein Zwölfjähriger namens Aleksij, der »Eckzahn« genannt wurde, ein kleinesWortgefecht mit einem der Sympathisanten der Tschornaja mast, die sich Worischki nannten, also »Kleine Diebe« – Wor (»Dieb«) ist bei der Tschornaja mast die Bezeichnung für absolute Autorität. Im Gefängnis ahmten die Kleinen Diebe die Mitglieder der Tschornaja mast in allem nach: Sie betrogen beim Kartenspiel, schlossen über alles Wetten ab, praktizierten homosexuellen Sex, wobei sie häufig die Schwächeren vergewaltigten und dann einschüchterten und wie Sklaven ausbeuteten.
    Eckzahn war mit einem anderen Sibirer auf dem Weg zur Latrine (im Gefängnis bewegt man sich immer gemeinsam: Falls einem Bruder etwas passiert, ist er nicht allein) und hatte ganz nach Vorschrift allen in der Zelle angekündigt, dass er nun sein Geschäft verrichten wolle. Angekündigt deshalb, weil viele glauben, dass man nicht essen oder trinken darf, wenn einer gleichzeitig aufs Klo geht, weil dadurch Essen und Wasser verunreinigt werden und derjenige, der solches Essen anrührt, sakontatschenyj wird, verseucht, befleckt: eine Sorte Mensch, die verachtet und misshandelt wird und sich auf der untersten Stufe der Verbrecherhierarchie befindet, von der sie niemals im Leben wieder aufsteigen kann.
    Als Eckzahn seine Ankündigung machte, meinte einer von den Kleinen Dieben, ein sadistischer Idiot namens Pjotr, Eckzahn sollte noch mal wiederholen, was er gesagt hatte, er hätte es nicht richtig verstanden.
    Das war eindeutig eine Provokation, und deshalb antwortete Eckzahn barsch, Pjotr solle sich besser die Ohren waschen, wenn er Probleme mit dem Hören habe.
    Danach ging Eckzahn aufs Klo, verrichtete sein Geschäft und kehrte in die sibirische Zone zurück.
    Nach dem Abendessen kamen fünfzehn Kleine Diebe zu uns und verlangten, wir müssten ihnen Eckzahn ausliefern, er verdiene eine Strafe, weil er einen ehrbarenKriminellen

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