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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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eines wohlwollenden und mitleidenden Bruders entgegen. Der Herr möge uns allen verzeihen.«
    Das war die Schule von Großvater Kusja, er wäre stolz auf mich gewesen: poetischer Tonfall, orthodoxer Inhalt – wie ein waschechter Sibirer.
    Nach meinen Worten zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf Onkel Balkens Gesicht, und Seil blieb fast der Mund offenstehen.
    Jetzt war der andere Unglücksrabe an der Reihe:
    »Ich bitte dich, verzeih mir wie einem Bruder, denn ich habe eine Ungerechtigkeit begangen und ...«
    Seine Stimme war weniger entschieden als die von Bart, er hatte offenbar Mühe, sich an seine Rolle zu erinnern, und verkürzte sie. Er warf Seil einen gequälten Blick zu, doch der zuckte nicht mit der Wimper, nur seine Hände ballten sich unfreiwillig zu Fäusten.
    Ich beschloss, sie alle mit meiner Freundlichkeit zu entwaffnen, holte tief Luft und sagte in einem Schwung den folgenden Satz:
    »Wie unser ruhmreicher Herr Jesus Christus uns arme Sünder in Seiner süßen Liebe umarmt und auf den Weg der ewigen Rettung geleitet, so umfange ich euch mit der gleichen Demut und Freude in brüderlicher Gnade.«
    Worte eines Heiligen, fast wäre ich abgehoben, mir war, als müsste sich in der Zimmerdecke eine Öffnung nur für mich allein auftun.
    Onkel Balken konnte gar nicht mehr aufhören zu lächeln, und Seil sagte:
    »Verzeih uns für alles, Kolima, geh beruhigt nach Hause, ich werde mich persönlich um alles kümmern.«Einen Monat später erfuhr ich, dass Geier bis aufs Blut geprügelt worden war, sein Gesicht wurde »gezeichnet« durch einen Schnitt, der vom Mund über die ganze Wange bis zum Ohr reichte. Anschließend musste er das Eisenbahnviertel für immer verlassen.
    Später erzählte mir jemand, dass er nach Odessa gezogen war und sich dort einer Bande Halbwüchsiger angeschlossen hatte, die in der Straßenbahn Brieftaschen klauten. Leute, die kein Gesetz anerkannten, weder das der Menschen noch das der Kriminellen.
    Irgendwann erfuhr ich dann von seinem Tod, seine eigenen Kumpane hatten ihn umgebracht, aus der fahrenden Straßenbahn gestoßen.

    Dscheka wurde schnell wieder gesund, der Bruch zog keine bleibenden Schäden nach sich; später studierte er an der Universität Medizin.
    Fima hatte das Pech, dass seine Familie nach Israel auswanderte. Man erzählte mir, dass er sich mit Händen und Füßen wehrte, als sie das Flugzeug bestiegen, und schrie, Fliegen sei eine Schande für einen Seemann. Er schlug einen Kopiloten und zwei Zöllner. Schließlich mussten sie ihm ein Beruhigungsmittel verabreichen, damit er einschlief.
    Iwan spielte weiter Geige im Restaurant, und nach einer Weile fand er einen Weg, um sich über die Abwesenheit des Freundes hinwegzutrösten: Er lernte ein Mädchen kennen und zog mit ihr zusammen. Unter den Mädchen der Stadt ging nämlich das Gerücht, Iwan sei von der Natur nicht nur mit einem musischen Talent ausgestattet worden.
    Finger lebte eine Weile bei uns im Viertel. Dann schloss er sich einer sibirischen Bande an, die Banken ausraubte, und ließ sich schließlich in Belgien nieder, wo er eine Einheimische heiratete.Nach dem Ärger im Eisenbahnviertel traf ich noch jahrelang ab und zu im Zentrum Jungen, die ich nicht kannte und die mich mit den Worten grüßten:
    »Ich war damals auch dabei.«
    Manche zeigten mir die Schnitte in der Kniekehle, die Narben auf den Oberschenkeln, fast schon eitel und stolz, und sagten:
    »Erkennst du das wieder? Das ist deine Arbeit!«
    Mit vielen freundeten wir uns an. Zum Glück ist an diesem Tag keiner draufgegangen, obwohl ich bei einem nur knapp die Leber verfehlte.

    Nachdem er von Onkel Balken erfahren hatte, wie ich mich Seils Neffen gegenüber verhalten hatte, beglückwünschte mich Großvater Kusja auf seine Weise. Schiefes Lächeln und ein einziger Satz:
    »Gut gemacht, Kolima, eine freundliche Zunge schneidet besser als jedes Messer.«

    Geburtstagsgeschenke bekam ich in diesem Jahr keine, mein Vater war wütend auf mich und sagte: »Nicht mal an deinem Geburtstag kannst du Ruhe geben.« Und meine Mutter war beleidigt, weil ich ihr verheimlicht hatte, was mir an diesem Tag widerfahren war, und in all dem Durcheinander hat niemand mir was geschenkt – niemand außer Onkel Witalij, von dem ich einen wunderschönen Lederfußball bekam, den aber mein Hund noch am gleichen Abend in Stücke riss.
    Keine Geschenke, dafür eine saubere Verletzung, die mir dabei half, nachzudenken und das Leben, das ich führte, besser zu

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