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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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beleidigt habe. Da unsere Vorstellung von Ehrbarkeit das genaue Gegenteil von der ihren war, dachten wir nicht eine Sekunde daran, ihnen unseren Bruder auszuliefern. Ohne etwas zu erwidern, stürzten wir uns auf sie und veranstalteten ein Schlachtfest. Der größte von uns, Kerja der Jakute, ein reinrassiger Sibirer mit indianischen Gesichtszügen, biss einem ein Stück Ohr ab, kaute und schluckte es vor aller Augen herunter.
    Am Ende zwangen wir achtzehn Personen gleichzeitig, um Verlegung zu bitten. Und danach begann man sich im ganzen Gefängnis, von Zelle zu Zelle, die Geschichte von den sibirischen Kannibalen zuzuraunen. Einen Monat später erzählte uns ein völlig verängstigter Junge, der vom ersten Stock in unsere Zelle verlegt worden war, unten ginge das Gerücht um, im dritten Stock hätten die Sibirer einen Jungen bei lebendigem Leib verspeist und nichts von ihm übrig gelassen.

    Wir Sibirer hatten mit der armenischen Familie Freundschaft geschlossen. Die Armenier kannten wir schon ewig, zwischen unseren Gemeinschaften bestanden gute Beziehungen, wir ähnelten uns in vielem. Wir hatten mit ihnen einen Pakt geschlossen, der die Macht unserer Gemeinschaften vergrößerte: Sollte ein größerer Tumult ausbrechen, würden wir einander helfen.
    Geburtstage und andere Feste feierten wir zusammen, manchmal teilten wir sogar die Pakete von zu Hause. Wenn jemand dringend etwas brauchte, was weiß ich, eine Arznei oder Tätowiertinte, halfen wir uns ohne große Worte aus.
    Nicht nur mit den Armeniern waren wir gut befreundet, sondern auch mit den Weißrussen, die anständige Leute waren, und den Jungen vom Don, die aus der Gemeinschaft der Kosaken kamen: Ihr Auftreten war einbisschen militärisch, aber sie hatten ein großes Herz und waren sehr mutig.
    Mit den Ukrainern hatten wir nur Ärger: Manche von ihnen waren Nationalisten und hassten die Russen, und aus unerfindlichen Gründen wurden sie auch von denen unterstützt, die dieses Gefühl nicht teilten. Das Verhältnis zu den Ukrainern verschlechterte sich merklich, als ein Sibirer aus einer anderen Zelle einen von ihnen tötete. Zwischen unseren Gemeinschaften entstand regelrecht Hass.
    Von den Georgiern hielten wir uns fern, sie waren allesamt Anhänger der Tschornaja mast. Ein jeder von ihnen wollte unbedingt eine Autorität werden und ersann tausend Wege, um sich bei den anderen Respekt zu verschaffen, führte eine Art Verbrecherwahlkampf, um Stimmen zu gewinnen. Die Georgier, die ich in diesem Knast kennenlernte, kannten keine wahre Freundschaft oder Brüderlichkeit, sie lebten in gegenseitigem Hass zusammen, versuchten, alle reinzulegen, zu Sklaven zu machen, wandelten die kriminellen Gesetze ab, wie es ihnen gerade in den Kram passte. Nur so konnten sie hoffen, Anführer zu werden, die von den erwachsenen Kriminellen der Tschornaja mast respektiert werden würden.
    Die Anhänger der Tschornaja mast waren in der Überzahl und kontrollierten durch ihren Terror die übrigen Häftlinge, die sie »Absätze« nannten – ein beliebiger Name, für den es keine besondere Erklärung gibt, der nur dazu diente, die Einfalt und Ignoranz der Masse zu unterstreichen. Die Absätze waren die normalen Häftlinge, Jungen, die keiner kriminellen Gemeinschaft angehörten und aus Pech im Gefängnis gelandet waren. Viele von ihnen waren Söhne von Trinkern und wegen Landstreicherei verurteilt worden, nach einem Paragrafen des Gesetzbuchs, an den sich kaum jemand hielt. Diese armenBurschen waren dermaßen fertige Einfaltspinsel, dass alle sie bedauerten. Die Kleinen Diebe beuteten sie wie Sklaven aus und misshandelten sie, quälten sie mit sadistischem Vergnügen und taten ihnen sexuelle Gewalt an.
    In der sibirischen Tradition gilt Homosexualität als schlimme, ansteckende Krankheit, weil sie die menschliche Seele zerstört. Daher wuchsen wir mit einem absoluten Hass auf Homosexuelle auf. Diese Krankheit, die bei uns nicht näher benannt ist und nur »fleischliches Übel« heißt, wird durch Blicke übertragen, darum wird ein sibirischer Krimineller einem Homosexuellen niemals in die Augen sehen. In den Erwachsenengefängnissen, wo die Mehrzahl der Häftlinge sibirisch-orthodoxen Glaubens ist, werden Homosexuelle zum Selbstmord gezwungen, weil sie mit anderen nicht dieselben Räume teilen dürfen. Wie das sibirische Sprichwort sagt: »Wer am fleischlichen Übel leidet, schläft nicht unter den Ikonen.«
    Ich habe den Hass auf die Homosexuellen nie so recht verstanden, aber da

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