Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
auf den Beinen, ich will nur schlafen.«

    Zwei Tage lag ich im Bett und stand nur auf, um zu essen und aufs Klo zu gehen. Am zweiten Tag kam Mel vorbei, zusammen mit Onkel Balken, dem Wart unseres Viertels, der die Geschichte noch mal von mir hören wollte.
    Ich erzählte ihm alles, und er versprach, die Sache in ein paar Stunden zu regeln, auch um Dscheka, Fima und Iwan vor Racheakten im Eisenbahnviertel zu schützen. Finger wollte fortan in unserem Viertel wohnen.

    Nach etwa einer Woche lud Onkel Balken mich zu sich nach Hause ein, damit ich mit einem Mann aus dem Eisenbahnviertel sprach. Es war ein erwachsener Krimineller, eine Autorität der Tschornaja mast mit dem Beinamen »Seil«, der als einer der wenigen Kriminellen aus dem Eisenbahnviertel von den unseren respektiert wurde.
    Sie saßen am Tisch, als ich hereinkam. Seil stand auf, kam mir entgegen und schaute mir ins Gesicht:
    »Aha, du bist also dieser berühmte ›Schriftsteller‹?«
    Schriftsteller heißt im Jargon der Kriminellen einer,der gut mit dem Messer umgehen kann. Schreiben bedeutet »einen Messerstich versetzen«.
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte und ob ich überhaupt durfte. Deshalb sah ich zu Onkel Balken. Er nickte.
    »Ich schreibe, wenn ich schreiben muss, wenn mich die Muse küsst«, antwortete ich.
    Seil lächelte breit:
    »Ganz schön aufgeweckt bist du, Barfuß.«
    Dass er mich Barfuß nannte, war ein gutes Zeichen. Die Sache schien sich zu meinen Gunsten zu wenden.
    Seil setzte sich wieder und lud mich ein, es ihm gleichzutun.
    »Ich werde dich jetzt fragen, wie du diese Sache siehst – ein einziges Mal, und danach werden wir nicht mehr darüber reden.« Seil sprach mit großer Ruhe und Sicherheit, man spürte, dass er eine Autorität war, einer, der wusste, wie man die Dinge regelt. »Wenn die Sache für dich damit gut ist und du dich an niemandem mehr rächen willst, gebe ich dir mein Wort, dass alle, die dich und deine Freunde belästigt haben, von uns, den Bewohnern des Eisenbahnviertels, streng bestraft werden. Wenn du dich an jemand Speziellem rächen willst, kannst du das tun, allerdings musst du in diesem Fall alles allein machen.«
    Ich musste keine Sekunde darüber nachdenken, die Antwort kam mir sofort über die Lippen:
    »Ich hab nichts gegen die Leute aus dem Eisenbahnviertel, was geschehen ist, ist geschehen, es ist richtig, alles zu vergessen. Ich hoffe, ich habe keinen von euch getötet, aber ihr wisst ja, wie es ist, im Kampf versucht jeder, seine Haut zu retten.«
    Ich wollte ihm zu verstehen geben, dass meine Rache nicht wichtig war, Wohlstand und Frieden der Gemeinschaft hatten Vorrang.
    Ernst, aber zugleich wohlwollend und freundlich sah Seil mich an:
    »Gut, dann verspreche ich dir, dass der, der diese schändliche Tat gegen euch angezettelt hat, während ihr euch als Gäste in unserem Viertel aufgehalten habt, bestraft und ausgestoßen wird. Deine Freunde können ein würdiges Leben führen, und du kannst mit erhobenem Haupt durchs Eisenbahnviertel gehen.« Er machte eine Pause und schaute zu einer Tür am anderen Ende des Zimmers. »Ich möchte dir meine Neffen vorstellen, du hast sie leider schon kennengelernt, aber jetzt möchte ich, dass du ihre Entschuldigung annimmst ...« Und bei diesen Worten kamen zwei Jungen mit Grabesmiene und hängendem Kopf herein. Einen erkannte ich sofort, es war Bart, der kleine Scheißer, den wir geschlagen und in der Schule eingesperrt hatten. Der andere hatte ein Gesicht, das mir nicht neu vorkam, doch mir fiel nicht ein, woher ich es kannte. Dann bemerkte ich, dass er hinkte, und unter seiner Hose, am linken Bein, erahnte man einen dicken Verband: Er war der Kerl, dem ich eins mit dem Messer verpasst und die Botschaft für den Geier mitgegeben hatte, beim ersten Kampf.
    Die beiden kamen näher und blieben begeistert wie zum Tode Verurteilte vor dem Erschießungskommando vor mir stehen. Sie grüßten mich wie aus einem Mund. Es war sehr traurig und erniedrigend, es tat mir leid für sie.
    Seil befahl ihnen streng:
    »Los, fangt an!«
    Sofort ratterte Bart, der kleine Schnüffler, wie ein MG los, er hatte seine Worte offensichtlich einstudiert:
    »Ich bitte dich um Entschuldigung wie einen Bruder, was ich getan habe, war falsch, wenn du mich bestrafen willst, dann tu es, aber bitte verzeih mir erst!« Es war nicht so rührend, wie es hätte sein können, dazu war es eindeutig zu formell.
    Und deshalb spielte auch ich nur meine Rolle:
    »Nimm den demütigen Gruß

Weitere Kostenlose Bücher