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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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verstehen.
    Nach langem Grübeln und vielen Selbstgesprächen kam ich zu dem Schluss, dass Messer und Prügel nicht der Weisheit letzter Schluss waren. Also ging ich zu Pistolen über.
    1 In manchen kriminellen Kasten die Bezeichnung für die untersten Ränge: Die Zahl leitet sich vom niedrigsten Spielkartenwertab.
    2 Abschätzige Bezeichnung für diejenigen, die die Benimmregelnder Kriminellen nicht respektieren.

Jugendgefängnis

    E ines Abends, es war Ende August und noch warm, war ich mit Mel auf dem Heimweg. Wir kamen vom Zentrum und hatten fast schon die Unterstadt erreicht, als, etwa zwanzig Meter entfernt, aus einem kleinen Park drei Jungs um die sechzehn sprangen, sturzbetrunken, mit leeren Flaschen in der Hand.
    An der Art, wie sie schimpften und fluchten, merkten wir gleich, dass es auf eine Schlägerei hinauslaufen würde.
    Ergeben, aber ungerührt sagte Mel:
    »Die Blödmänner haben uns gerade noch gefehlt ... Wenn die nur einen Mucks machen, bring ich sie um, Kolima, ich schwör’s ...« Er steckte die Hand in die Tasche und zog langsam das Messer heraus, hielt es in Höhe der Hüfte, drückte auf den Knopf, so dass die Klinge heraussprang, und versteckte es dann hinter dem Rücken. Ich tat das Gleiche, versteckte meins aber vorn, unter dem T-Shirt, während ich so tat, als würde ich den Gürtel festziehen.
    »Ich hoffe für sie, dass sie vernünftig sind, um die Zeit noch Ärger, das bringt doch nichts ...«, sagte ich.
    Aber als wir an ihnen vorbeigingen, warf einer der drei Mel eine leere Flasche in den Rücken. Ich hörte ein unnatürliches Geräusch, wie von einem Schneeball, der gegen eine Mauer fliegt. Und gleich darauf ein ganz natürliches, das ich erwartet hatte: von einer Flasche, die auf den Boden fällt und zu Bruch geht.
    Nur eine Sekunde später, noch bevor ich überhaupt reagieren konnte, schlug Mel schon auf den einen ein, während die beiden anderen danebenstanden und versuchten, mit ihren Flaschen auf ihn einzudreschen. Den Hiebenausweichend, stürzte ich mich auf den ersten und stieß ihm das Messer in die Seite. Der andere zerschlug seine Flasche am Boden und zerschnitt mir mit dem Hals das Gesicht. Da rastete ich aus und stach ihm das Messer ins Bein, immer und immer wieder ... bis ich plötzlich hinter mir das Geräusch einer Kalaschnikow hörte, die durchgeladen wird, und im nächsten Moment eine Salve. Instinktiv warf ich mich auf den Boden. Eine Stimme schrie:
    »Die Waffen weg! Hände hoch, Beine auseinander, Gesicht nach unten! Ihr seid verhaftet!«
    Es war, als würde ich in einen unendlich tiefen Brunnen fallen.
    »O nein, das darf nicht sein, alles, nur das nicht.«

    Für die Dauer der Ermittlungen, die genau zwei Wochen dauerten, sperrten sie mich in die Arrestzelle des Polizeipostens in Tiraspol. Die drei, die uns angegriffen hatten, zogen ihre Anzeigen zurück, nachdem mein Vater die richtigen Leute zu ihnen nach Hause geschickt hatte.
    Mel kam dann auch nach einer Woche wieder raus, weil er sein Messer nicht benutzt hatte.
    Aber ich hatte es benutzt, sie hatten mein Messer am Tatort gefunden, und obwohl die Opfer keine Strafverfolgung verlangten, genügten den Justizbehörden der Bericht der Polizisten, die uns verhaftet hatten, und meine Fingerabdrücke auf der Waffe.
    Es folgte ein kurzer Prozess im Schnellverfahren: Der Staatsanwalt beantragte drei Jahre Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis für Jugendliche. Der Verteidiger – ein vom Staat bestellter Anwalt, der seinen Job trotzdem ordentlich machte, wohl weil er, wie ich hinterher erfuhr, von meiner Familie zusätzlich Geld bekommen hatte – pochte auf die besonderen Umständen des Falls: keine Anzeige seitens der Opfer, gute Führung während meinerersten Strafe, die ich zu Hause hatte verbüßen dürfen, und vor allem der fehlende Beweis, dass die Waffe mir gehörte. Ich hätte sie schließlich auch am Tatort gefunden oder einem der Opfer abgenommen haben können, zumal die sich in der zweiten Aussage selbst als die »Aggressoren« bezeichnet hatten. Schließlich verkündete die Richterin, eine mollige ältere Frau, mit Grabesstimme:
    »Ein Jahr Freiheitsentzug in einer Besserungsanstalt für Jugendliche mit der Möglichkeit, bei guter Führung nach fünf Monaten vorzeitige Haftentlassung zu beantragen.«
    Ich war nicht im geringsten erschrocken oder überrascht. Ich erinnere mich, dass es mir vorkam, als würde ich bald einen Ausflug machen, irgendwohin in ein Zeltlager, ein wenig Erholung und dann

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