Sibirische Erziehung
sich, wie immer, wenn er mir etwas »Auge in Auge« sagen wollte.
»He, Kolima, komm mal mit.«
Ich folgte ihm aufs Dach, und wir betraten den Verschlag, in dem er seine Tauben hielt. Plötzlich drehte er sich um und sah mich an, als wollte er mich abschätzen:
»Geh in die Stadt und achte darauf, dass alles seine Ordnung hat. Lass die anderen reden, hör du nur zu. Und pass besonders gut bei den Juden und den Ukrainern auf ...« Er schob eine Lage Heu beiseite, die den Boden bedeckte, und deutete auf einen kleinen Spalt zwischen den Dielenbrettern. »Heb das lose Brett an und nimm, was du darunter findest, an dich. Trenne dich nie davon, und wenn sich jemand mit euch anlegt, benutze ihn. Ich habe ihn selbst geladen.« Dann ging er hinaus, ließ mich allein bei der kleinen Luke. Ich hob das Brett an und fand einen Nagant, jenen legendären Trommelrevolver, der bei unseren alten Kriminellen so beliebt war.
Großvater Kusjas Rede hatte in der Kriminellensprache eine genau umrissene Bedeutung: Von einem angesehenen Kriminellen eine geladene Pistole zu bekommen ist gleichbedeutend mit der Erlaubnis, sie in jeder beliebigen Situation zu benutzen. Man ist beschützt, muss sich keine Gedanken über die Konsequenzen machen. Oft, wenn die Lage zu brenzlig wird, reicht es zu sagen: »Ich habe eine geladene Pistole von ...«, und alles wendet sich zum Guten, denn wenn dann noch einer auf einen losgeht, dannist das, als wäre er auf die Person losgegangen, die die Pistole geladen hat.
Vor dem Haus von Großvater Kusja warteten zwei erwachsene Fahrer auf uns, zwei junge Kriminelle aus unserem Viertel, die Befehl hatten, uns zu fahren, wohin wir wollten, aber ohne einzugreifen, es sei denn, es ging um Leben und Tod.
Bevor wir in die Autos stiegen, besprachen wir uns kurz und legten uns eine grobe strategische Marschroute zurecht. Wir beschlossen, dass Gagarin, der älteste von uns, dem auch die Aufgabe zufiel, mit den Leuten zu reden, das Geld an sich nehmen sollte. Wir anderen wollten uns in zwei Gruppen aufteilen: Die erste sollte Gagarin den Rücken freihalten, die zweite sollte, während er sprach, ein bisschen bei den Leuten herumschnüffeln und nach Anhaltspunkten suchen.
»Ist das erste Mal, dass wir die Köter spielen«, sagte Gagarin.
Wir lachten und machten uns auf den Weg, um Bender abzuklappern. In Wirklichkeit war es ganz und gar nicht zum Lachen: Es war wie ein Abstieg in die Hölle.
Im Auto sagte Mel, er sei ein bisschen aufgeregt, und gab mir eine Pistole:
»Da, nimm. Du hast doch bestimmt wieder nur dein Messer dabei. Aber die hier macht ernst, behalt sie, auch wenn du’s doof findest, tu’s für mich.«
Ich antwortete, ich wäre schon versorgt, und da war er beruhigt, er zwinkerte mir sogar zu und sagte:
»Dann warst du also bei deinem Onkel ...«
Ich kam mir zu bedeutend vor, um gleich (und so mir nichts, dir nichts) das Geheimnis der Pistole, die ich bei mir trug, auszuplaudern, deshalb lächelte ich nur und sang leise:
»Mutter Sibirien, bewahre mein Leben ...«Als Erstes fuhren wir in ein Lokal im Zentrum, das ein alter Krimineller führte, Pawel, der Wart des Gebiets. Pawel war kein Sibirer und lebte nicht nach unseren Regeln, deshalb mussten wir uns ihm gegenüber diplomatisch verhalten, aber ohne zu übertreiben: Immerhin kamen wir aus dem ältesten und bedeutendsten Verbrecherviertel, der Unterstadt, und verdienten allein schon deshalb Respekt, weil wir Sibirer waren.
Pawel hatte eine Gruppe von Freunden da, Leute aus Südrussland, die keinen festen Gesetzen folgten außer denen des Mammon, es waren Leute, die ihren Reichtum zur Schau stellten, die modische Kleidung und jede Menge Gold trugen – Ketten, Armreife, Ringe. Wir mochten das nicht: Ein Krimineller, der was auf sich hält, trägt nichts am Leib außer seinen Tätowierungen. Der Rest ist Demut, wie der Herr uns lehrt.
Wir gingen hinein und grüßten. Von dem Tisch, an dem der Wirt saß und mit seinen Freunden Karten spielte, stand ein etwa dreißigjähriger dünner Mann auf, mit Gold behängt, in einer roten Jacke, die duftete wie eine Frühlingsrose, oder wie mein Onkel Sergej sagen würde: »wie eine Nutte zwischen den Beinen«. Er sprach uns in sehr aggressivem Tonfall an, schon für die ersten Bemerkungen hätte er nach unseren Regeln locker das Messer verdient gehabt.
Er war ein Provokateur: ein Hund, der kläfft, um die Passanten zu erschrecken. Nur dazu dienen solche Typen. Ein kluger, erfahrener Kriminelle weiß das
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