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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Städte waren alle gleich, sie bestanden aus fünf oder sechs sogenannten Kleinvierteln, die ein trauriges Panorama abgaben: Alle Häuser waren gleich gebaut, es waren neunstöckige, in drei Reihen angeordnete Mietshäuser mit kleinen Gärtchen davor, in denen das Gras nicht wuchs und die Bäume nicht länger als eine Saison überlebten, weil es keine Sonne gab. Auf diesen handtuchgroßen Stückchen Gelände gab es sogar einen Spielbereich für Kinder mit monströsen Spielgeräten aus Eisenschrott und Beton, die überall scharfe Kanten hatten und in kommunistischer Manier angestrichen waren, das heißt einfarbig, ganz gleich, was sie darstellen sollten, entsprechend dem Konzept der kommunistischen Gesellschaft, wo ja auch alle gleich sein sollten. Obwohl Mutter Natur das Krokodil grün und den Löwen gelb erschaffen hatte, waren hier beide rot lackiert und sahen aus, als wären sie das Werk eines durchgeknallten Künstlers. Die Spieltiere, die dazu da waren, den Kindern Vergnügen zu bereiten, waren in Asphalt eingelassen und schon nach den ersten Regenfällen von Rost bedeckt. Das Risiko, sich zu schneiden und an Tetanus zu sterben, war hoch.
    Bei den Leuten hieß diese tolle Initiative der Erbauer der neuen Städte schon bald »Adieu, Kinder«, wegen der zahlreichen verletzten Kinder. Nach ein paar Jahren bauten die, die neu zuzogen, als erstes diese Spielbereiche ab, damit ihre Kleinen Aussicht auf eine gesunde und glückliche Kindheit hatten.
    Orte wie dieser, wo die Natur ausgelöscht und gegen ein stupid-groteskes Projekt menschlicher Selbstverherrlichung eingetauscht wurde, lösten bei Leuten wie mir Trauer und Schmerz aus.
    Wie dem auch sei, in unserer Stadt war Bam das Viertel, in dem neunstöckige Häuser gebaut worden waren. Darin wohnten arme Teufel ohne Hoffnung, zumeist kleine Vandalen und solche, die man in Sibirien die »Unantastbaren« nennt, also Kriminelle, die wegen ihrer Beschränktheit nicht in der Lage sind, die Gesetze eines ehrbaren, würdigen Verbrecherlebens zu befolgen.
    In Bam war Drogenabhängigkeit beinahe zum Normalzustand geworden. Drogen waren jederzeit zu haben, Tag und Nacht, die Jugendlichen fingen im Alter von zwölf an zu drücken. Die meisten erreichten kaum die Volljährigkeit, und die wenigen, die es schafften, sahen schon mit achtzehn uralt aus, ohne Zähne und mit einer Haut wie Marmor. Sie begingen niedere Verbrechen wie Diebstahl oder Handtaschenraub, aber auch viele Morde.
    Über Bam erzählte man Geschichten, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, das Ausmaß an Dummheit und Verzweiflung der Menschen hier war erschreckend: Neugeborene, die von ihren Müttern aus dem Fenster geworfen wurden, Kinder, die ihre Eltern brutal ermordeten, Brüder, die ihre Brüder ermordeten, minderjährige Mädchen, die von ihren Brüdern, Vätern oder Onkeln gezwungen wurden, auf den Strich zu gehen.
    Es war ein ziemlich gemischtes Viertel, viele Moldawier, Zigeuner, Ukrainer, Leute aus Südrussland und einige Familien aus dem Kaukasus. Sie alle verband nur eins: die völlige Unfähigkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
    In Bam galten keine Gesetze, und es gab niemanden, der für all das Chaos dort gegenüber den ehrbaren Kriminellen Verantwortung hätte übernehmen können.
    Darum galten die Leute, die dort lebten, als sakontatschenaja , als verseucht. Die kriminellen Gesetze verbieten den normalen Umgang mit ihnen. Jeglicherkörperliche Kontakt ist verboten, man darf sie nicht grüßen, weder mit Worten noch mit Handschlag. Man darf keine Gegenstände benutzen, die sie zuvor benutzt haben. Man darf nicht mit ihnen essen, trinken, Tisch oder Bett teilen. Im Knast – das habe ich bereits erwähnt – leben die Verseuchten in abgetrennten Ecken, oft müssen sie unter den Pritschen schlafen und mit Löffeln essen, die durch ein Loch in der Mitte gekennzeichnet sind. Sie müssen dreckige, zerrissene Kleider tragen, die außerdem keine Taschen haben dürfen, weshalb Taschen entfernt oder herausgetrennt werden. Jedes Mal, wenn sie die Latrine benutzen, müssen sie darin Papier verbrennen, weil nach Verbrecherglauben nur das Feuer eine Sache, mit der ein Verseuchter in Kontakt gekommen ist, wieder rein machen kann.
    Leute, die einmal zu Verseuchten erklärt worden sind, haben keinerlei Möglichkeit, dieses Stigma wieder loszuwerden, sie tragen es ihr Leben lang, und darum sind sie in Freiheit gezwungen, unter ihresgleichen zu leben, kein anderer will sie in seiner Nähe

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