Sibirische Erziehung
verrieten ihren Gemütszustand.
Onkel Anatolij, ein alter Krimineller, der als junger Mann in einer Schlägerei das linke Auge verloren hatte und darum den Beinamen »Zyklop« trug, stellte sich neben Tante Marfa. Er war groß und kräftig und trug keine Binde über dem Loch, in dem einst sein Auge gesessen hatte: Er zog es vor, allen die schreckliche leere Höhle zu zeigen.
Der Zyklop hatte die Aufgabe übernommen, sich um Tante Marfa zu kümmern und auf ihre Familie achtzugeben, während der Ehemann – sein bester Freund – im Knast saß. So ist es Brauch unter sibirischen Kriminellen: Wer eine lange Strafe antreten muss, bittet einen Freund, jemanden, dem er vertraut, seine Familie im Alltag zu unterstützen, aufzupassen, dass die Ehefrau ihn nicht mit einem anderen betrügt (was in unserer Gemeinschaft praktisch unmöglich ist), und die Erziehung der Kinder zu überwachen.
Der Zyklop nahm Tante Marfa in den Arm undversuchte, sie zu beruhigen, aber sie schrie nur noch lauter, und die anderen Frauen auch. Bald fingen auch die Kinder an zu weinen, erst die kleinen, und dann auch die etwas größeren.
Es war die Hölle: Sogar mir kamen die Tränen, obwohl ich den Grund für diese Verzweiflung nicht kannte.
Der Zyklop sah uns an und las an unseren Gesichtern ab, dass uns noch keiner was gesagt hatte. Mit trauriger, zorniger Stimme flüsterte er:
»Ksjuscha ist vergewaltigt worden ... Wir leben in einer Welt von Bastarden!«
»Sei still, Anatolij, erzürne Unsern Herrn nicht noch mehr!«, unterbrach ihn Filat, ein sehr alter Krimineller, den alle »Winter« nannten – warum, habe ich nie herausgefunden.
Angeblich hatte Filat als junger Mann Lenin höchstpersönlich ausgeraubt. Er und seine Bande hatten am Stadtrand von Sankt Petersburg ein Auto angehalten, in dem ausgerechnet Lenin und andere Parteimitglieder saßen. Lenin – erzählte man sich – habe sich geweigert, den Räubern Auto und Geld zu überlassen, und daraufhin soll Winter ihm eins über den Schädel gezogen haben: Aufgrund dieser Verletzung hatte Lenin seinen berühmten Tick bekommen, also, dass er immer den Kopf nach links drehte. Ich habe diese Geschichte eigentlich nie geglaubt, keine Ahnung, ob etwas dran war, aber jedenfalls war es lustig anzuschauen, wenn die Erwachsenen sie im Brustton der Überzeugung erzählten.
Winter war eine alte Autorität, er konnte seine Meinung sagen, und alle hörten auf ihn. Es war seine Aufgabe, den Zyklop zurechtzuweisen, weil der mit zu viel Zorn gesprochen hatte und ihm Flüche herausgerutscht waren, die ein wohlerzogener sibirischer Krimineller nicht aussprechen durfte.
»Eine Welt von Bastarden, sagst du? Ja, wer bist du denn, Junge? Diese Welt ist von Unsrem Herrn erschaffen, und darauf gibt es auch viele rechte Menschen. Willst du die alle beleidigen? Achte auf deine Worte, man kann sie nicht zurückholen, wenn sie einmal ausgesprochen sind.«
Der Zyklop schaute zu Boden.
»Es stimmt«, fuhr Großvater Filat fort, »es ist ein großes Unglück geschehen, eine Ungerechtigkeit. Uns ist es nicht gelungen, den Engel Unsres Herrn zu beschützen, und nun lässt Er uns dafür bezahlen. Wer weiß, vielleicht brummen sie dir morgen eine lange Gefängnisstrafe auf, jemand stirbt durch die Hand der Köter, ein anderer verliert den Glauben an die Mutter Kirche ... Wir alle werden bestraft werden, weil wir alle gesündigt haben. Auch ich alter Mann werde auf irgendeine Weise bestraft werden. Aber jetzt ist nicht die Zeit, den Kopf zu verlieren, wir müssen dem Herrn zeigen, dass wir Seine Zeichen erkennen, wir müssen Ihm helfen, Seine Gerechtigkeit walten zu lassen ...« Den Rest von Winters Vortrag habe ich verpasst: Ich rannte so schnell ich konnte zu Ksjuschas Haus.
Alle Türen und Fenster standen sperrangelweit offen.
Tante Anfisa ging durchs Haus wie ein Geist: Ihr Gesicht war weiß, ihre Augen voller Tränen, und ihre Hände zitterten so stark, dass sich das Beben auf den ganzen Körper übertrug. Sie schrie nicht und sagte nichts, sie gab nur einen leisen langgezogenen Laut von sich, wie Hunde, wenn sie Schmerzen haben.
Ihr Anblick machte mir Angst. Einen Moment lang war ich wie gelähmt, dann kam sie auf mich zu und berührte mit ihren zitternden Händen mein Gesicht, meine Wangen, sah mich weinend an und flüsterte etwas, dessen Sinn ich nicht erfasste, weil ich wie in einen dichten Nebelgehüllt war. Ich hörte nichts, in meinen Ohren war ein pfeifendes Geräusch, das immer lauter wurde, als
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