Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
an derartigen Versammlungen teilnehmen, für die Einhaltung des kriminellen Gesetzes verantwortlich. Die Aufgabe eines Warts ist knifflig, er muss immer auf dem Laufenden darüber sein, was in seinem Viertel los ist, und wenn etwas Schlimmes passiert, wird der Wart von den Autoritäten »gebeten«, wie es im Verbrecherjargon heißt: Er wird bestraft – nur dass keiner jemals »bestrafen« sagt, sondern eben »bitten«. Man kann auf drei Arten bitten: Man kann jemanden »wie einen Bruder bitten«, das ist die leichte Art; jemanden »einrahmen«, das wiegt schon schwerer;und man kann jemanden »wie den Teufel bitten«, das ist die endgültige, besonders schwere Art, durch die das Leben des Kriminellen eindeutig eine Wende zum Schlechten nimmt, wenn es nicht gleich ausradiert wird.
    Normalerweise lösen die alten Autoritäten ein Problem nicht persönlich: Das ist Aufgabe des Warts, der von ihnen ausgesucht wird und sie in gewissem Sinne vertritt – zumindest solange er sich verhält, wie es sich gehört. Nur wenn die Situation vertrackt ist und er sie allein nicht lösen kann, darf der Wart sich an eine Autorität wenden und im Beisein mehrerer Zeugen, die unter den gewöhnlichen Kriminellen ausgesucht werden, den Fall vortragen, allerdings ohne die Namen der beteiligten Personen zu nennen, damit das Urteil unparteiisch gefällt wird. Nennt der Wart dennoch Namen oder gibt er auf andere Weise zu verstehen, um wen es sich handelt, dann kann der Alte ihn bestrafen und sich seinerseits aus dem Fall zurückziehen und ihn an jemand anderen übergeben, meist eine ihm fernstehende Person, zu der er keine engeren Beziehungen hat. All das soll dem Prozess der Verbrecherjustiz eine größtmögliche Neutralität gewährleisten: Auf diese Weise liegt ihm einzig das kriminelle Gesetz zugrunde.
    Wenn etwas passiert, ist der Wart der erste, der ein Interesse daran hat, alles schnell und gründlich zu klären, damit der Fall nicht zu kompliziert wird und die Autoritäten eingeschaltet werden müssen.

    Onkel Balken war ein alter Räuber und nach alter Art erzogen. Zur Eröffnung der Versammlung sprach er den sibirischen Gruß, dankte also Gott dafür, dass er allen die Möglichkeit gegeben hatte, anwesend zu sein.
    Er sprach langsam, mit tiefer Stimme, eher wie ein Bär denn ein Mann. Wir hörten zu, ab und zu seufzte jemand traurig, um zu bekunden, wie schwer erträglich die Situation war.
    Der Kern seines Vortrags war einfach: Ein schlimmes Verbrechen war geschehen. Einer Frau überhaupt Gewalt anzutun, ist für die sibirische Verbrechergemeinschaft inakzeptabel; aber die Vergewaltigung einer Gottgewollten bedeutet, der sibirischen Tradition als Ganzes Gewalt anzutun.
    »Ihr habt eine Woche Zeit«, schloss er und sah uns Jungen an. »Ihr müsst den oder die, wenn es mehrere waren, Schuldigen finden und töten.«
    Das war unser Auftrag. Da Ksjuscha noch minderjährig war, schrieben die Regeln unseres Viertels vor, dass Ermittlungen und Urteilsvollstreckung Sache der Minderjährigen waren.
    Aber nicht allein, die Erwachsenen würden uns helfen, wo sie konnten. Nur gegenüber den anderen Gemeinschaften mussten wir allein auftreten, damit sie verstanden, wie unser Gesetz funktioniert.
    So wollen es die sibirischen Regeln: Die Erwachsenen halten sich aus den Angelegenheiten der Minderjährigen heraus. Sie können ihnen helfen, ihnen Ratschläge geben, sie unterstützen, aber nach außen hin müssen die Minderjährigen selbständig auftreten. Auch in unsere Schlägereien mischten sich die Erwachsenen nicht ein, während die Jungen aus den anderen Vierteln Erwachsene als Verstärkung herbeirufen durften. Ein erwachsener Sibirer würde sich nie erlauben, die Hand gegen einen Minderjährigen zu erheben, weil er dadurch seine Würde verliert. Umgekehrt muss auch der Minderjährige wissen, wo sein Platz ist, und darf den Erwachsenen nicht auf die Nerven fallen.
    Damit also die anderen verstanden, dass unser Gesetz stark war, mussten wir sibirischen Jungen beweisen, dass wir in der Lage waren, unsere Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.
    »Geht als erstes von Viertel zu Viertel, um Informationen zu bekommen. Das hier wird euch dabei helfen«, sagte Onkel Balken und hielt uns ein Bündel Geldscheine hin. Es waren zehntausend Dollar, verdammt viel Geld.
    Die Versammlung war vorüber, und mit dem Segen unserer Gruppe konnten wir nun in die Stadt aufbrechen.
    Doch bevor ich das Haus verließ, rief Großvater Kusja mich mit einer Geste zu

Weitere Kostenlose Bücher