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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und ignoriert sie einfach, würdigt sie keines Blickes und gibt dadurch dem anderen gleich zu verstehen, dass er kein Fraer ist, kein Narr.
    Wir ließen den Scheißkerl einfach stehen und schimpfen und gingen zum Tisch.
    Der alte Pawel sah uns aufmerksam an und fragte barsch, was wir wollten.
    Gagarin hatte drei Jugendstrafen hinter sich, ein Jahr zuvor hatte er zwei Köter umgebracht, und in seinen siebzehn Lebensjahren hatte er schon genügend Erfahrung gesammelt, um zu wissen, wie man mit solchen Leuten redet, also fasste er für ihn gleich zusammen, worum es ging.
    Er erzählte von dem Geld und von der Notwendigkeit, die Schuldigen zu finden.
    Plötzlich war alles anders. Pawel sprang auf, riss sein Hemd auf und zeigte seine Brust, die von Tätowierungen und Goldkettchen bedeckt war. Er brüllte:
    »Eine solche Tat ist unverzeihlich, bei Gott, wenn ich ihn finde, bringe ich ihn mit meinen eigenen Händen um!«
    Ruhig und gelassen wie ein Toter am Tag seiner Beerdigung sagte Gagarin, es sei nicht nötig, ihn umzubringen, dafür würden wir schon sorgen, es könne aber nicht schaden, es weiterzusagen und uns dabei zu unterstützen, den Täter zu finden. Wer uns dabei helfen könnte, wiederholte er, den würden wir fürstlich belohnen.
    Pawel versicherte uns, er werde alles tun, um den Bastard ausfindig zu machen. Dann bot er uns etwas zu trinken an, aber wir baten um Erlaubnis zu gehen, da wir noch viel vorhatten.
    Als wir hinausgingen, bemerkten wir, dass vor dem Lokal Autos und Mofas vorfuhren: Offensichtlich hatte der alte Pawel bereits die Leute aus seinem Viertel zusammengetrommelt, um ihnen die Angelegenheit zu erklären.

    Die zweite Station war das Eisenbahnviertel. Die Kriminellen aus dem Eisenbahnviertel begingen hauptsächlich Wohnungseinbrüche. Sie waren eine multiethnische Gemeinschaft, mit Gesetzen, wie sie auch in den meistenGefängnissen der Sowjetunion galten. Das Fundament war der Kollektivismus: Die höchste Autorität, die Diebe vor dem Gesetz, verwalteten das Geld von allen.
    Das Eisenbahnviertel gehörte wie erwähnt zum Einflussbereich der Tschornaja mast, der Kaste, die aufgrund der großen Zahl ihrer Anhänger und vor allem ihrer Unterstützer die russische Verbrecherwelt offiziell regierte.
    Das Verhältnis zwischen Tschornaja mast und uns war seit je gespannt: Sie bezeichneten sich als die Herren der Verbrecherwelt und waren sowohl im Knast als auch draußen sehr präsent, aber die Grundlagen ihrer kriminellen Tradition, ein Großteil ihrer Gesetze und sogar die Tätowierungen hatten sie von uns Urki abgekupfert.
    Ihre Kaste war zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, in einer Zeit sozialer Umbrüche, als es im Land von verzweifelten Menschen, Vagabunden und Kleinkriminellen wimmelte, die nur zu gern in den Knast wanderten, weil sie dort zu essen bekamen und ein Dach über dem Kopf hatten. Allmählich waren sie zu einer mächtigen Gemeinschaft geworden, die aber jede Menge Schwächen hatte, wie selbst viele Autoritäten der Tschornaja mast zugaben.
    Im Eisenbahnviertel war alles mehr oder weniger organisiert wie bei uns auch. Es gab einen Wart, der dafür verantwortlich war, was im Viertel passierte, und der gegenüber den Dieben vor dem Gesetz Rechenschaft ablegen musste. Und es wurde kontrolliert, wer das Viertel betrat oder verließ.
    Tatsächlich wurde unser Auto an der Grenze zum Eisenbahnviertel an einem Kontrollpunkt von jugendlichen Kriminellen angehalten.
    Um ihnen zu verstehen zu geben, wie entspannt wir waren, blieben wir im Auto sitzen, bis einer von ihnen herankam und Gagarin ansprach. Die anderen lehnten anden Autos, rauchten und warfen ab und zu einen abwesenden Blick auf uns, aber nur so, wie zufällig.
    Einen von ihnen kannte ich, ich hatte ihn damals bei der Schlägerei im Zentrum niedergestochen. Nachdem hinterher alles wieder ins Reine gekommen war, durfte man sich offiziell nicht mal mehr an die Sache erinnern. Er sah mich an, ich grüßte ihn aus dem Auto heraus, und er machte eine Geste, als hätte er immer noch Schmerzen in der Seite, dort, wo ich ihn mit dem Messer erwischt hatte. Dann fing er an zu grinsen und drohte mit dem Zeigefinger, aber nur im Scherz, wie um mir zu sagen, dass er mir nichts übel nahm. Eine wohlwollende Geste, als wollte er mir zu verstehen geben, dass er persönlich nichts gegen mich hatte, obwohl wir früher mal aneinandergeraten waren. Eine Art anzuerkennen, dass das Geschehene in der Situation, in der wir uns damals befanden,

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