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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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unvermeidlich war.
    Ich antwortete mit einem Grinsen, dann zeigte ich ihm meine Hände: leer und mit den Handflächen nach oben, eine positive Geste, die Ergebenheit, Arglosigkeit und Gleichmut gegenüber dem, was gerade geschieht, ausdrücken soll.
    Während ich mit dem Typ freundliche, wohlerzogene Gesten austauschte, erklärte Gagarin einem anderen den Grund unseres Besuchs. Sie riefen jemanden übers Handy an, und nach ein paar Minuten kam ein Junge auf einem Mofa. Es war unser Führer, er sollte uns zum Wart des Viertels bringen, der »Barbos« hieß, was eine scherzhafte Bezeichnung für kleine schwache Hunde war. Er hieß so aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit.

    Barbos war ein außergewöhnlicher Mensch, sehr gebildet, klug und schlau und mit einem seltenen Sinn für Humor, der es ihm erlaubte, über alles Witze zu machen, selbstüber seine Körpergröße. Aber sein Charakter hatte auch eine weniger positive Seite: Er geriet sehr leicht in Zorn und war in seinen sechsundvierzig Lebensjahren viermal wegen Mordes verurteilt worden.
    Es wurde eine Menge Unsinn über ihn erzählt: Seine Mutter sei eine Hexe gewesen und habe ihn unsterblich gemacht, indem sie ihn mit Diamantstaub fütterte. Oder dass er im Mutterleib seinen Zwillingsbruder gefressen hatte und sie ihn deshalb verhext hatte, damit er nicht richtig wuchs.
    Mein Onkel, der ihn schon ewig kannte, erzählte, dass Barbos als Junge beim Metzger üben ging, wie man den Leuten mit einer Eisenstange den Kopf einschlägt: Er prügelte auf die enthäuteten, an Haken hängenden Tiere ein und vervollkommnete seine Technik so sehr, dass er schließlich sein Mordhandwerk aus dem Effeff beherrschte.
    Seltsam, dass es ihm gelungen war, bei der Tschornaja mast, wo Mord zumindest bei den höchsten Autoritäten beinahe verachtet wurde, einen so bedeutenden Rang auf der Hierarchieleiter zu erklimmen. Meiner Meinung nach hatte er das Amt des Warts bekommen, um in dieser kritischen Zeit für die Tschornaja mast, deren Zusammenhalt Risse bekommen hatte und die anscheinend jemanden mit Durchsetzungsvermögen brauchte, alle bei der Stange zu halten.

    Wir folgten dem Jungen auf dem Mofa in die Seitenstraßen hinter der Eisenbahn. Plötzlich hielt er an und zeigte auf eine offene Tür. Als wir ausstiegen, kam Barbos in Gesellschaft von drei jungen Kriminellen aus dem Haus.
    Er ging auf uns zu, und wir begrüßten uns. Nach sibirischem Brauch erkundigte er sich als Hausherr zunächst nach dem Befinden einiger Alter aus der Unterstadt. Nachjeder Antwort bekreuzigte er sich und dankte dem Herrn für Seine Güte gegenüber unseren Alten. Als die Formalitäten erledigt waren, fragte er nach dem Grund unseres Besuchs.
    Gagarin erklärte ihm kurz das Nötige, und als er ihm von der ausgesetzten Belohnung für den entscheidenden Hinweis auf den Vergewaltiger erzählte, veränderte sich das Gesicht des Zwergs, es verzog sich zornig und wurde spitz wie eine Klinge.
    Er rief einen seiner Leute herbei und sagte ihm etwas ins Ohr, dann entschuldigte er sich und versprach, dass er uns bald alles erklären würde. Nach ein paar Minuten kam sein Mann mit einer kleinen Sporttasche zurück. Barbos reichte sie Gagarin, der sie öffnete und uns den Inhalt zeigte: Dollarbündel und zwei Pistolen.
    »Es sind zehntausend, ich erlaube mir, sie zu der Belohnung für den Kopf dieses Bastards beizusteuern ... Was die Pistolen angeht« – der Zwerg grinste boshaft – »die sind ebenfalls für euch: Wenn ihr ihn findet, feuert im Namen aller ehrbaren Diebe unseres Viertels auf ihn, denn wir würden nie wagen, dies selbst zu tun. Diese Vergeltung gehört euch.«
    Es wäre unhöflich gewesen abzulehnen, also nahmen wir die Tasche und dankten ihm.
    Als wir das Viertel verließen, waren wir froh über die Art, wie Barbos uns empfangen hatte. Mir ging es trotzdem nicht gut, ich fühlte mich immer schlechter: Der Gedanke an Ksjuscha hörte nicht auf, mich zu quälen, ich ahnte, dass diese Verletzung zu tief ging, ich dachte an sie schon fast wie an eine Tote.

    Der nächste Besuch galt einem Viertel namens »Bam«, was eine Abkürzung für Bajkal-Amur-Magistrale war und eine Eisenbahnlinie bezeichnete, die den Baikalsee mit dem großen sibirischen Fluss verbindet.
    Entlang dieser Eisenbahnlinie hatte man eine Autobahn gebaut und in den Siebzigerjahren neue Industriestädte aus dem Boden gestampft, und viele Leute waren dorthin gezogen, um für den Fortschritt der sozialistischen Heimat zu arbeiten. Diese

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