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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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würde man unter Wasser immer weiter nach unten tauchen. Plötzlich begann mein Kopf zu schmerzen, ich schloss die Augen und presste so fest ich konnte die Hände gegen meine Schläfen, und in diesem Moment kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und verstand, was Anfisa mir immer wieder zuflüsterte:
    »Warum?«
    Ein einfaches, kurzes, schneidendes »Warum?«
    Mir war übel, ich spürte meine Füße nicht mehr. Mir schwanden die Kräfte, man sah es mir wohl an, denn als ich versuchte, zu Ksjuscha ins Zimmer zu gehen, spürte ich, wie zwei meiner Freunde mich bei den Ellbogen packten und stützten. Ich taumelte wie ein Betrunkener, spürte ein Unwohlsein in der Brust, eine Last auf Herz und Lunge, ich konnte nicht atmen. Um mich herum drehte sich alles, ich versuchte geradeaus zu schauen, aber das Karussell in meinem Kopf drehte sich immer schneller, immer schneller ... Plötzlich war da ein Bild von Ksjuscha, verschwommen, aber trotzdem erschreckend: Sie lag auf dem Bett wie ein Neugeborenes, die Knie bis ans Gesicht gezogen und die Arme fest darum geschlungen. Abgeriegelt, vollständig verschlossen. Ich wollte ihr ins Gesicht sehen, wollte das Drehen in meinem Kopf anhalten, aber ich bekam mich nicht unter Kontrolle, ich sah ein helles Licht und verlor das Bewusstsein, sank in die Arme meiner Freunde.
    Als ich wieder zu mir kam, lag ich draußen im Hof, und meine Freunde knieten um mich herum. Einer gab mir ein bisschen Wasser zu trinken, ich stand auf und fühlte mich gleich wieder gut, stark, wie nach langer Erholung.
    Der Hof hatte sich gefüllt, auf der Straße vor dem Tor wartete eine lange Schlange, die Leute baten Tante Anfisaum Verzeihung, die Frauen hörten nicht auf, zu klagen und Verwünschungen gegen die Vergewaltiger auszustoßen.
    Ich hatte nur einen Wunsch: Ich wollte wissen, wer zu dieser Tat imstande gewesen war.
    Einer von uns, »Schieler« – der so genannt wurde, weil er als kleiner Junge geschielt hatte, obwohl das später wieder in Ordnung gekommen war: seine Augen hatten sich verändert, aber der Beiname war geblieben – kam zu uns und sagte, dass Großvater Kusja alle zu einem Chodnjak erwartete, einer großen Versammlung von Kriminellen aller Ränge, bei der auch die Minderjährigen erscheinen müssen.
    Wir fragten ihn, ob er wüsste, wer Ksjuscha vergewaltigt hatte, und wie es passiert war.
    »Ich weiß nur«, antwortete er, »dass zwei Frauen aus unserem Viertel sie im Zentrum gefunden haben, in der Nähe des Markts, zwischen Müllcontainern, bewusstlos.«

    Aus Respekt werden diese Versammlungen immer im Haus eines alten Kriminellen abgehalten, der zugeknotet hat: Aufgrund seiner Erfahrung kann er wertvolle Ratschläge geben, ist aber, da er sich zurückgezogen hat und keine Verantwortung mehr trägt, sozusagen raus aus dem Spiel. Wenn die Versammlung in einem fremden Haus stattfindet, können die verantwortlichen Kriminellen sagen, was sie denken, ohne Rücksicht auf die Gesetze der Gastfreundschaft nehmen zu müssen, nach denen der Hausherr dem Gast nicht widersprechen darf. Man kann offen miteinander diskutieren, ohne die Anstandsregeln zu verletzen.
    Als wir beim Haus von Großvater Kusja ankamen, stand die Tür wie immer weit offen. Ohne anzuklopfen, gingen wir hinein, wie es die Regeln vorschreiben: Mandarf einen alten Kriminellen nie um Erlaubnis bitten, sein Haus zu betreten, weil er nach der Philosophie lebt, dass ihm nichts gehört, er in diesem Leben nichts besitzt außer der Macht des Wortes; nicht einmal das Haus, in dem er wohnt, gehört ihm: Er wird immer sagen, dass er dort nur Gast ist. Großvater Kusja aber war tatsächlich nur Gast, denn er lebte im Haus seiner jüngeren Schwester Ljusja, einer freundlichen alten Frau.
    Viele Kriminelle aus der Unterstadt hatten sich im Haus versammelt, darunter auch mein Onkel Sergej, der jüngere Bruder meines Vaters. Wir begrüßten die Anwesenden mit Handschlag und drei Küssen auf die Wangen, wie es in Sibirien Brauch ist. Wir setzten uns, und Großmutter Ljusja brachte eine große Korbflasche mit Kwass. Wir warteten, bis alle gekommen waren, dann gab Onkel Balken, unser Wart, das Zeichen, dass wir beginnen konnten.

    Zweck derartiger Versammlungen war es, gemeinsam einen Zustand der Gesetzwidrigkeit in unserem Viertel zu beheben, wobei sich alle auf eine Lösung einigen und jeder nach seinen Möglichkeiten dazu beiträgt.
    Wie ich schon sagte, hat jedes Viertel seinen Wart. Er ist gegenüber den höchsten Autoritäten, die nie

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