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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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falschen Besitzer Verderben bringt«.
    Ist ein Krimineller in Gefahr, so kann seine Pika ihn auf verschiedene Weise warnen: die Klinge schnappt plötzlich von allein auf, wird heiß oder vibriert; manche behaupten, sie sei sogar in der Lage, Pfiffe auszustoßen.
    Geht eine Pika kaputt, deutet das auf einen Toten hin, der keinen Frieden findet, und dann wird den Ikonen geopfert oder man gedenkt in den Gebeten der toten Verwandten und Freunde, man geht auf den Friedhof, erinnert sich an die Toten, indem man im Familienkreis über sie spricht und insbesondere den Kindern von ihnen erzählt.
    Kein Wunder also, dass meine Augen bei dem Wort »Pika« aufleuchteten. Eine Pika zu besitzen, bedeutete die Anerkennung durch die Erwachsenen, verband einen dauerhaft mit ihrer Welt.
    Igels Frage war ein klarer Hinweis, dass mir gleich etwas Verrücktes widerfahren würde, mir, einem Kind von sechs Jahren. Ein legendärer Krimineller würde mir eine Pika schenken, meine erste Pika. Auf so etwas konnte man nicht hoffen, man konnte es sich nicht mal ausmalen, und doch zeichnete sich urplötzlich vor mir die Möglichkeit ab, jenes heilige Symbol zu besitzen, das für Leute mit sibirischer Erziehung Teil ihrer Seele ist.
    Ich versuchte, meine Aufregung zu verbergen, und machte ein gleichgültiges Gesicht. Aber ich glaube, dass es mir nicht gut gelungen ist, denn die drei schauten mich an und lächelten. Bestimmt dachten sie an damals zurück, an ihre erste Pika.
    »Hab keine«, sagte ich fest.
    »Na, dann wart mal einen Moment, ich komme gleich wieder ...« Mit diesen Worten ging Igel ins Haus. Ich platzte fast vor Glück, in mir spielte ein Orchester, ein Feuerwerk wurde abgebrannt, und ich hörte einen Chor euphorischer Stimmen. Ich war wie besoffen, fast wäre ich explodiert.
    Gleich darauf kam Igel wieder, ging auf mich zu, nahm meine Hand und legte eine Pika hinein. Die Pika.
    »Die gehört jetzt dir, möge der Herr dir beistehen und möge deine Hand stark und entschlossen werden ...«
    Auch er freute sich, man sah es daran, wie er mich ansah.
    Ich schaute auf meine Pika und konnte es nicht glauben. Sie war schwerer und größer, als ich mir vorgestellt hatte.
    Ich drückte einen kleinen Hebel herunter, der die Klinge sicherte, und drückte auf den Knopf. Das Geräusch des Mechanismus war Musik in meinen Ohren, es war, als ob das Metall eine Stimme bekäme. Im Bruchteil einer Sekunde, mit ungeheurer Kraft, schnellte die Klinge hervor und stand sofort still und gerade da, fest und stabil. Es war ein schockierender Augenblick, als dieser seltsame Gegenstand, der in geschlossenem Zustand aussah wie ein Schreibzeug von vor hundert Jahren, beim Öffnen die klare und endgültige Gestalt einer Waffe annahm, wunderschön, graziös, subtil, voller Aristokratie und Faszination.
    Der Griff war aus schwarzem Knochen – so nannte man bei uns die dunkelbraunen, fast schwarzen Geweihe desKönigshirschs – und besaß in der Mitte eine Einlegearbeit aus weißem Knochen in Form eines orthodoxen Kreuzes. Der Griff war so lang, dass ich ihn mit zwei Händen festhalten musste, wie die mittelalterlichen Ritter ihr Schwert. Auch die Klinge war sehr lang, auf einer Seite geschliffen und spiegelblank poliert. Eine phantastische Waffe, ich kam mir vor wie im Paradies.

    Von diesem Tag an stieg mein Ansehen unter meinen Freunden ins Unendliche. Eine Woche lang musste ich Scharen von Kindern empfangen, die aus dem ganzen Viertel herbeigelaufen kamen, um meine Pika zu sehen. Unser Haus war regelrecht zum Wallfahrtsort geworden, und sie waren die Pilger. Großvater ließ sie in den Hof herein und brachte Erfrischungsgetränke für alle. Großmutter hatte kaum einen Krug Kwass zubereitet, da war er auch schon ausgetrunken. Deshalb streute ich das Gerücht, dass Opfergaben in flüssiger, vorzugsweise gekühlter Form gern gesehen seien, was dazu führte, dass jeder, der den ersten glücklichen sechsjährigen Besitzer einer echten Pika sehen wollte, irgendwas zu trinken mitbringen musste.
    Ich war aufrichtig stolz auf mich, aber nach einer Weile ergriff mich eine seltsame Depression, ich wurde es müde, hundert Mal am Tag die gleiche Geschichte zu erzählen und dauernd meine Pika vorzuzeigen. Also ging ich wie jedes Mal, wenn ich ein Problem hatte oder etwas mich quälte, zu Großvater Kusja.
    Großvater Kusja war ein alter Krimineller aus dem Viertel, der in einem kleinen Haus am Fluss lebte. Trotz seines Alters war er sehr stark, seine Haare waren noch

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