Sibirische Erziehung
abgelehnt hast, um eines vollen Bauches willen. Du hast deine Würde verloren. Wohin du auch gehst, alle werden dich verachten, du gehörst weder zur Welt der Wölfe noch zu der der Menschen ... Und dann wirst du begreifen, dass der Hunger kommt und geht, während die einmal verlorene Würde nie wiederkommt.«
Den Schluss mochte ich am liebsten, weil die Worte des alten Wolfs das reine Destillat der kriminellen Philosophie waren, und während Großvater Kusja sie aussprach, spiegelte sich in ihnen sein eigenes Leben, seine Art, die Welt zu sehen und zu begreifen.
Ein paar Jahre später musste ich wieder daran denken. Ich war in einem Zug unterwegs, der mich und andere ins Jugendgefängnis brachte, und ein Wächter bot uns ungefragt Stücke von seiner Wurst an. Wir hatten schrecklichen Hunger, viele stürzten sich gierig auf diese Wurst und verschlangen sie. Ich aber lehnte ab, und als mich einer fragte, warum, erzählte ich ihm die Geschichte vom Wolf, der seine Würde verlor. Der andere verstand mich nicht, doch als wir ankamen, verkündete der Wächter, derdie Wurst verteilt hatte, auf dem Appellplatz, vor versammelter Mannschaft, dass er sie vorher, bevor er sie ihnen gab, in die Kloschüssel getunkt hatte.
Nach dem kriminellen Gesetz galten alle, die davon gegessen hatten, als »infiziert« und wanderten auf die unterste Stufe der Verbrecherhierarchie: Noch bevor sie das Gefängnis betraten, wurden sie bereits von allen verachtet. Solche Spielchen spielten die Köter oft mit uns, um die Regeln der Kriminellen als Waffe gegen sie selbst einzusetzen; bei den Jugendlichen hatten sie damit am meisten Erfolg, weil die oft nicht wussten, dass ein anständiger Krimineller nichts aus den Händen eines Köters annehmen darf. Wie mein Onkel selig sagte:
»Ein ehrbarer Krimineller nimmt von den Kötern nur Schläge an, und selbst die gibt er wieder zurück, wenn der rechte Moment gekommen ist.«
Dank des unvermittelt gewachsenen Ansehens bei meinen Freunden machte ich indirekt auch die Erziehung populär, die ich bei Großvater Kusja genoss. Er war hochzufrieden, weil er auf diese Weise uns alle erreichte: Durch einen einzelnen, also mich, vermittelte er vielen anderen die richtige erzieherische Grundlage, um darauf die sibirische Einstellung zum Leben aufzubauen, um Vorstellungen und Ideale weiterzugeben. Nicht umsonst wurden wir aus der Unterstadt von den anderen Jungen »Sibirische Erziehung« genannt, ein Beiname, den man den Sibirern im Exil wegen ihres Festhaltens an den kriminellen Traditionen und wegen ihrer im Vergleich zu anderen Gemeinschaften extrem konservativen Denkweise verpasst hatte.
In unserer Stadt unterschieden sich die Verbrechergemeinschaften, besonders wenn sie aus jungen Leuten bestanden, oft durch ein besonderes Kleidungsstück oderdurch die besondere Art, es zu tragen. Auch Symbole wurden verwendet, die einen sofort als zu dieser oder jener Bande, diesem oder jenem Viertel, diesen oder jenen Landsleuten zugehörig auswiesen. Viele Gemeinschaften markierten ihr Territorium durch Zeichen oder Graffiti, aber dieses Mittel der gesellschaftlichen Kommunikation wurde von den mächtigen alteingesessenen Gemeinschaften nicht gern gesehen. Unsere Alten zum Beispiel hatten uns immer verboten, irgendwas auf die Mauern zu schreiben oder zu malen, weil ihnen das peinlich war und sie es für ungezogen hielten. Unsere Gemeinschaft, erklärte Großvater Kusja mir einmal, hat es nicht nötig, ihre Anwesenheit auf derlei Weise zu behaupten: sie existiert und damit basta, und die Leute wissen es nicht deshalb, weil sie jeden Tag irgendein Geschmier auf ihrer Hauswand sehen, sondern weil sie unsere Anwesenheit spüren und sicher sein können, stets auf die Hilfe und das Verständnis von uns Kriminellen zählen zu können. Das gleiche gilt übrigens auch für den einzelnen Kriminellen: Selbst wenn er eine lebende Legende ist, er benimmt sich wie der geringste von allen.
In anderen Stadtvierteln war das ganz anders. Die Kriminellen aus dem Zentrum trugen Goldanhänger, durch die sie ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bande zeigten. Die Bande des »Piraten« zum Beispiel, eines jungen Kriminellen, der einen regelrechten Kult um seine Person betrieb, unterschied sich von den anderen durch einen Anhänger mit Schädel und gekreuzten Knochen, wie auf einer Piratenflagge. Die Bande aus dem Eisenbahnviertel verlangte von ihren Mitgliedern, schwarze Klamotten zu tragen, um zu betonen, dass sie der Kaste Tschornaja
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