Sibirische Erziehung
mast angehörten 3 . Die Ukrainer aus demBalka-Viertel hingegen kleideten sich amerikanisch, genauer gesagt wie Afroamerikaner. Sie sangen Lieder, die keinen Sinn ergaben, weil die Wörter so schnell ausgesprochen wurden, dass man keinen Furz verstand. Und überall sprühten sie komische Sachen hin; einmal hatte einer von ihnen in der Unterstadt etwas auf die Hauswand eines alten Häftlings gesprüht und war deshalb von dessen Nachbarn, einem jungen Kriminellen, erschossen worden. Ich erinnere mich, dass ich mit Großvater Kusja über diese Sache sprach: Ich sagte, dass ich es nicht gerechtfertigt fände, jemanden wegen einer solchen Tat umzubringen, man könnte doch für die Beleidigung und die Respektlosigkeit eine Buße verlangen oder denjenigen verprügeln, nach einer Tracht Prügel wussten die Leute ja meist Bescheid. Großvater Kusja war nicht einverstanden, er meinte, ich sei zu human, zu human und zu jung. Wenn die Jungen den falschen Weg einschlagen und nicht mehr auf die Alten hören wollen, erklärte er mir, schädigen sie meist nicht nur sich selbst, sondern auch die Leute in ihrer Umgebung. Die jungen Ukrainer brachten viele andere Jungs aus anderen Stadtvierteln in Gefahr, die es ihnen nachmachen würden, weil es stets einfacher und reizvoller ist, ungezogen zu sein, als dem Weg der guten Erziehung zu folgen: Durch ihr Verhalten hatten die Ukrainer die Macht der Kriminellen und die Ordnung in unserer Stadt angezweifelt. Und deshalb war es notwendig, sie mit totaler Strenge und Grausamkeit zu behandeln, damit alle begriffen, wohin der Weg des Ungehorsams gegenüber den Traditionen führen kann. Und er fügte hinzu:
»Und überhaupt, warum tun die so, als wären sie schwarze Amerikaner und nicht, sagen wir, Nordkoreaneroder Palästinenser? Ich sag dir, warum: Wegen dem Dreck, der vom Satan kommt, durchs Fernsehen, das Kino, die Zeitungen und all diesen Schweinkram, von dem ein Mensch mit Würde und Ehre die Finger lässt ... Amerika ist ein verfluchtes, von Gott vergessenes Land, und alles, was von dort kommt, muss man ignorieren. Aber diese Idioten finden es lustig, Amerikaner zu spielen, und wenn das so weitergeht, brüllen sie bald auch noch rum wie die Affen ...«
Großvater Kusja hasste alles, was amerikanisch war, denn wie alle sibirischen Kriminellen widersetzte er sich allem, was in der Welt die Macht verkörperte. Als er von Leuten hörte, die nach Amerika geflohen waren, von den vielen Juden, die in den Achtzigerjahren auf spektakuläre Weise die Sowjetunion verlassen hatten, sagte er verwundert:
»Warum gehen die denn alle nach Amerika, ich denke, sie suchen die Freiheit? Unsere Vorfahren sind in die sibirischen Wälder geflohen, doch nicht nach Amerika. Und wozu vor dem sowjetischen Regime fliehen, um unter dem amerikanischen zu leben? Das ist wie ein Vogel, der dem einen Käfig entkommen ist, um freiwillig in einem anderen zu leben ...«
Jedenfalls war in der Unterstadt alles Amerikanische verboten. Die amerikanischen Autos, die ansonsten frei in der Stadt herumfuhren, durften nicht in unser Viertel, und genauso wenig begegnete man dort Kleidungsstücken, Haushaltsgeräten oder sonstigen Gegenständen »made in USA«. Für mich persönlich war das besonders schmerzlich, denn ich hatte eine Schwäche für Jeans: Ich liebte sie, aber ich durfte keine anziehen. Heimlich hörte ich amerikanische Musik, ich mochte Blues, Rock und Metal, aber es war ein großes Risiko, solche Platten oder Kassetten zu Hause zu haben; als mein Vater einmalmeine Verstecke inspizierte und welche entdeckte, war die Hölle los, er verprügelte mich und zwang mich, in seiner und Großvaters Anwesenheit die Aufnahmen eigenhändig zu zerstören, und außerdem musste ich eine Woche am Stück jeden Abend ihm und den anderen Familienmitgliedern eine Stunde auf dem Akkordeon russische Weisen vorspielen und dazu unsere Volks- und Verbrecherlieder singen.
Die amerikanische Politik faszinierte mich nicht, nur die Musik und die Bücher einiger Schriftsteller. Einmal schien mir der rechte Augenblick gekommen, um es Großvater Kusja zu erklären: Ich hoffte, dass er mit seinem Ansehen für mich Partei ergreifen und mir die Erlaubnis erwirken könnte, amerikanische Musik zu hören und amerikanische Bücher zu lesen, ohne mich vor der Familie zu verstecken. Aber er sah mich nur an, als ob ich ihn verraten hätte, und sagte:
»Mein liebes Söhnchen, weißt du eigentlich, warum die Leute in Pestzeiten alles, was den Kranken
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