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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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aufhaben« bedeutet, »Gelassenheit zur Schau tragen«, »entspannt sein«. »Die Acht Dreiecke über die Augen ziehen« kündigt die Notwendigkeit an, abzuhauen, sich zu verstecken. Und »die Acht Dreiecke füllen« bedeutet, von etwas reichlich nehmen.
    Oft genug benutzte ich meine Mütze tatsächlich, um sie zu füllen, zum Beispiel wenn wir Tante Marta besuchen gingen, eine Frau, die allein am Fluss wohnte und für ihre Marmeladen berühmt war. Wir brachten ihr die Äpfel, die wir in den Kolchosgärten am anderen Ufer klauten, und halfen ihr, sie zu schälen, damit sie daraus Marmelade kochen und Piroschki , kleine Hefebrötchen, füllen konnte. Im Hof vor dem Haus, vor der Tür zur offenen Küche, in der immer etwas auf dem Herd kochte, saßen wir auf kleinen Hockern im Kreis und angelten die Äpfel aus den Tüten, schälten sie mit unseren Messern und warfen sie in einen großen Topf mit Wasser. Wenn er voll war, schleppten wir ihn alle zusammen ins Haus, wobei wir als Griffe zwei lange Holzstangen benutzten. Tante Marta hatte uns gern, sie gab uns reichlich zu essen, wenn wir nach Hause gingen, waren unsere Bäuche immer voll, und in den Händen trugen wir die Piroschki . Ich tat meine in die Mütze und aß sie im Gehen auf.
    Die Mütze aus acht Dreiecken wird in zahlreichen Werken der Verbrechertradition besungen: in Sprichwörtern, Gedichten, Liedern. Da ich viel Zeit bei alten Kriminellen verbracht und ihnen gelauscht habe, wenn sie gesungen oder Gedichte vorgetragen haben, kannte ich viele auswendig. Mein Lieblingslied ging so:

    Ich erinnere mich, ich trug eine Mütze aus acht Dreiecken,
    trank Wodka und rauchte kräftigen Tabak dazu,
    ich war in meine Nachbarin Nina verliebt
    und führte sie aus ins Restaurant.
    Ich trug ein Schaber 4 in meinen knarrenden Chromatschij 5 ,
    unter dem Hemd eine Telnjaschka 6 ,
    ein Geschenk von Dieben aus Odessa ...

    Die Acht Dreiecke stand immer im Mittelpunkt: Dauernd wurde sie erwähnt, und manchmal wurde sogar auf sie gewettet. Oft hörte man in Gesprächen zwischen Kriminellen, ob jung oder alt, den Satz: »Wenn das nicht wahr ist, soll mir meine Acht Dreiecke auf dem Kopf in Flammen aufgehen«, oder: »Soll mir meine Mütze vom Kopf fliegen«, oder, etwas makabrer: »Will ich an meiner eigenen Mütze ersticken«.
    In unserer Gesellschaft war es verboten zu schwören, es galt als Schwäche, eine Beleidigung der eigenen Person: Wer schwört, gibt zu verstehen, dass das, was er sagt, nicht wahr sein könnte. Aber wenn wir Jungen uns unterhielten, schworen wir hier und da doch mal, und dann immer auf die eigene Mütze. Auf gar keinen Fall durfte man bei seiner Mutter, allgemein bei den Eltern und Verwandten oder bei Gott und den Heiligen schwören. Auch nicht bei der eigenen Gesundheit oder, noch schlimmer, bei der eigenen Seele, denn das wurde als »Beschädigung von Gottes Eigentum« angesehen. Da blieb ja nur noch die eigene Mütze übrig.

    Einmal schwor mein Freund Mel vor mir und zwei anderen Jungen aus unserer Bande, wenn er es nicht schaffte, aus dem Stand über das Schultor zu springen, dann würde er »seine Acht Dreiecke Amur in den Arsch stecken« (Amur hieß der Hund von Onkel Pest, einem Nachbarn von uns).
    Noch heute kann ich einfach nicht begreifen, wie Mel auf die Idee kam, über dieses Schultor zu springen, und warum er so überzeugt davon war, er könnte ein vier Meter hohes Hindernis in einem Satz überwinden. Damals beschäftigte mich allerdings am meisten, wie er das mit der Mütze hinkriegen wollte, falls er die Wette verlor, denn Amur war der größte und bösartigste Hund im ganzen Viertel: Er war ein Mischling aus deutschem Schäferhund und einheimischem Alabaj und genoss einen schrecklichen Ruf. Normalerweise streunte Amur friedlich im Hof seines Herrn herum, aber manchmal drehte er durch, besonders wenn er einen Pfiff hörte. Zweimal hatte man schon auf ihn geschossen, nachdem er Leute angefallen hatte, aber er hatte jedes Mal überlebt, denn – wie mein Vater sagte – »je öfter man auf diese Bestie schießt, desto stärker wird sie«. Mir persönlich machte dieser Hund eine Heidenangst, einmal beobachtete ich, wie er über den Fluss schwamm und am anderen Ufer eine Ziege in Stücke riss wie einen Lumpen.
    Aus all diesen Gründen fand ich Mels Idee saudumm. Aber er hatte es nun mal gesagt, und deshalb konnte er es nicht wieder zurücknehmen, also mussten wir diesem blödsinnigen Spektakel beiwohnen, bei dem Mel sowohl Regisseur als auch

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