Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
gehört hat, verbrennen?«
    Ich schüttelte den Kopf. Aber ich konnte mir schon denken, worauf er hinauswollte.
    Er seufzte traurig und meinte nur:
    »Wegen der Ansteckung, Nicolai, wegen der Ansteckung.«

    Und weil alles, was amerikanisch war, verboten war, so wie es verboten war, über materielle Dinge Reichtum und Macht zur Schau zu stellen, kleideten sich die Leute aus unserem Viertel sehr bescheiden. Wir Kinder liefen richtig armselig herum, aber wir waren auch stolz darauf, wie Trophäen trugen wir die alten Schuhe unserer Väter oder unserer älteren Brüder auf, ihre unmodisch gewordenen Kleider, die sibirische Demut und Einfachheit betonen sollten.
    Es war beeindruckend, wie unsere Alten mit Geld umgingen. Wir waren eine alte und sehr wohlhabende Gemeinschaft, die Häuser in unserem Viertel waren riesig, die Leute hätten auf großem Fuße leben, das Leben in vollen Zügen genießen können, doch Geld diente ganz eigenen Zwecken: keine Kleider, Juwelen, teure Autos, Glücksspiele; ihr Geld gaben die Sibirer nur für zweierlei aus, nämlich für Waffen und orthodoxe Ikonen. Wir starrten vor Waffen und sozusagen auch vor Ikonen, die wahnsinnig teuer waren.
    Ansonsten waren wir bescheiden, bescheiden und uniform. Im Winter trugen wir wattierte schwarze oder dunkelblaue Hosen, die sehr warm und bequem waren. Bei den Jacken gab es zwei Modelle: entweder die klassische wattierte Fufaika , die damals in der Sowjetunion die halbe Bevölkerung trug, weil das die Jacke der Arbeiter war, oder die Tulup mit dem riesigen Pelzkragen, den man bis zu den Augen hochschlagen konnte, um sich gegen die eisige Kälte zu schützen. Ich trug die Fufaika , weil sie leichter war und ich darin mehr Bewegungsfreiheit hatte. Die Stiefel waren schwer und mit Pelz gefüttert, und zum Schutz gegen Erfrierungen zogen wir lange Wollstrümpfe an. Auf dem Kopf trugen wir eine Pelzkappe: Meine war wunderschön, aus weißem Hermelin, leicht und bequem und doch sehr warm.
    Im Sommer trugen wir normale Stoffhosen, immer mit Gürtel, wie es in Sibirien Gesetz war. Der Gürtel ist ein traditionelles Kleidungsstück der Jäger, für die er nicht nur ein Talisman war: Er konnte auch als Hilferuf dienen. Wenn ein Jäger sich im Wald verirrt oder verletzt hatte, band er seinem Hund den Gürtel um den Hals und schickte ihn nach Hause; wenn die anderen den Hund heimkehren sahen, wussten sie, dass sein Herr in der Klemme saß.
    Zu der Hose trugen wir ein Hemd, das gewöhnlich weißoder grau war, mit hochgestelltem Kragen und seitlichen Knöpfen: die Kosoworotka , das heißt »schräger Kragen«. Darüber leichte graue oder schwarze, sehr grobe Jacken aus Militärbeständen. Und auf dem Kopf schließlich die legendäre Mütze der sibirischen Kriminellen, unsere »Fahne«, die »Acht Dreiecke«. Acht Dreiecke deshalb, weil sie aus acht Stücken Stoff besteht, die so vernäht sind, dass sie eine bauschige Kuppel bilden, die oben von einem Knopf zusammengehalten wird; einen kleinen Schirm hat sie auch. Die Farbe muss hell sein oder am besten ganz weiß. In Russland heißt diese Art Mütze Kepka , und es gibt sie in vielen Variationen. Acht Dreiecke ist nur die sibirische Variante. Ein mutiger, erfahrener Krimineller trägt seine Acht Dreiecke so, dass der Schirm stark gebogen ist und in der Mitte einen Kniff hat, aber nie gebrochen ist. Will man einem Feind seine Verachtung zeigen, drückt man die Mütze zusammen, bis sie sich verformt, und schlägt damit nach ihm.
    Meine Acht Dreiecke hatte mir mein Onkel geschenkt, es war eine alte Mütze, und gerade deshalb gefiel sie mir. Nur war mein Kopf noch zu klein, und darum musste ich sie mir hinter die Ohren klemmen: Das bereitete mir einigen Kummer, weil ich glaubte, meine Ohren würden für immer abstehen, aber ich hatte keine Wahl, sonst wäre sie mir halb ins Gesicht gerutscht. Später passte meine Mutter sie meinem Kopf an, und das war wirklich ein schöner Tag.
    Die Acht Dreiecke war so wichtig, dass es Geschichten über sie gab und sie in zahlreichen Redensarten vorkam. Im Jargon der Kriminellen bedeutet der Satz »die Acht Dreiecke tragen« so viel wie »ein Verbrechen begehen« oder »sich an kriminellen Geschäften beteiligen«. Der Satz »die Acht Dreiecke gerade halten« bedeutet »auf der Hut sein«, »eine Gefahr wittern«. »Die Acht Dreiecke inden Nacken schieben« hingegen heißt, ein aggressives Verhalten an den Tag legen, sich auf einen Angriff gefasst machen. »Die Acht Dreiecke schief

Weitere Kostenlose Bücher