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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Hauptdarsteller war.
    Wir gingen also zum Schultor.
    Beim ersten Versuch schaffte Mel einen halben Meter und knallte mit der Nase gegen das Tor. Auf dem Hosenboden sitzend dämmerte es ihm:
    »Mist, verdammt hoch, das schaff ich nie ...«
    Ich sah ihn an und konnte einfach nicht glauben, dass ein Mensch aus Fleisch und Blut wie du und ich derart naiv sein konnte. Ich versuchte, die Situation zu retten, und sagte, dass es sehr lustig gewesen sei und wir jetzt alle wieder nach Hause gehen könnten. Aber er in seiner Blödheit sagte nur, es sei Ehrensache, den Schwur auch einzuhalten.
    Ich musste lachen und weinen zugleich. Meine beiden Freunde Teufel und Dschigit hingegen waren begeistert und malten sich schon aus, wie Mel sich dem Hund nähern und seinen dusseligen Plan mit größtmöglicher Effizienz ausführen könnte: Sie gingen voraus und erklärten Mel die Sache in allen Einzelheiten, während ich mich wie ein Gespenst hinter ihnen her schleppte.
    Als wir da waren, kletterte Mel über den Zaun und sprang in den Hof. Onkel Pest war nicht zu Hause, er war wohl fischen gegangen: Das Netz fehlte, das normalerweise zum Trocknen über dem Zaun hing.
    Amur kauerte neben der Tür: Mit leiser Ironie im schrecklich brutalen Gesicht musterte er uns interessiert, als versuchte er herauszufinden, wie wir es anstellen wollten, ihm Mels Acht Dreiecke in den Arsch zu schieben.
    Mel hatte eine Schnur mitgebracht, mit der er den Hund fesseln wollte, und er hatte auch eine Dose Vaseline dabei, die Freunde von ihm bei Tante Natalia, der Krankenschwester, erbettelt hatten und die das Einführen der Mütze in den Hundehintern erleichtern sollte. Mel machte ein paar Schritte vorwärts, aber der Hund rührte sich nicht, er sah ihn mit gleichgültigen, gelangweilten Augen an, als würde er durch ihn hindurchschauen. Mit jedem Schritt fasste Mel mehr Mut, und während er sich anfangs zaghaft wie eine Schildkröte bewegte, sprang er zuletzt fast, hoch erfreut, dass der Hund sich nicht rührte.
    Als Mel und Amur nur noch ein paar Meter auseinander waren, steckte Dschigit zwei Finger in den Mund und pfiff, so laut und durchdringend er konnte, dass sich selbst mir die Nackenhaare aufstellten. Im nächsten Moment kam Mel wie von Zauberhand über den Zaun und meinen Kopf hinweg geflogen und schlug mit der Stirn auf dem Asphalt auf, der in der Sommersonne brodelte. Gleich darauf erbebte das Tor unter dem Aufprall von Amurs massigem Körper, der seiner Wut in einem eigenartigen Schrei Luft machte, wie ich ihn vorher noch nie von einem lebendigen Wesen gehört hatte: ein menschlich anmutender Schrei, vermischt mit einem verzweifelten, wütenden Chor aus Tierstimmen, als wetteiferten ein Elefant, ein Löwe, ein Wolf, ein Bär und ein Pferd darum, wer am lautesten schreien kann. Wenn mich in diesem Augenblick jemand gefragt hätte, wie die Stimme des Teufels klingt, hätte ich gesagt: wie die Stimme von Amur.
    Mels Hose war am Hintern zerrissen, darunter sah man blutige rote Streifen, die Spuren von Amurs Prankenhieb. Er war starr vor Schreck und begriff noch immer nicht, was passiert war, während Dschigit und Teufel sich vor Lachen am Boden wälzten und immer weiter pfiffen, um den Hund noch mehr zu reizen, der auf der anderen Seite des Tors Schaum spuckte und seine animalische Wut herausbrüllte.
    Das Tor war zum Glück verschlossen, denn wenn es offen gewesen wäre, hätte Amur uns mit Sicherheit allesamt in Stücke gerissen.
    Mel hatte seine Wette zwar verloren, aber nach so einem lustigen Spektakel verziehen wir ihm.

    Mit zwölf kam ich zum ersten Mal mit der Justiz in Konflikt. Ich kam vor Gericht, und zwar wegen »Nötigung«, »Mordversuchs in Tateinheit mit schwererKörperverletzung« und, natürlich, wegen »Widerstands gegen die Staatsgewalt in Ausübung ihrer Pflichten zur Wahrung der öffentlichen Ordnung«. Es war mein erster Strafprozess, und in Anbetracht der Umstände (ich war ein kleiner Junge, das »Opfer« ein mehrere Jahre älterer Vorbestrafter) begnügte sich der Richter mit einem Urteil, das wir unter uns »Streicheleinheit« nennen: kein Gefängnis, keine Verpflichtung zur Teilnahme an einem Besserungsprogramm oder so einem Mist, bei dem die Leute gewöhnlich nur noch mehr verrohen und aggressiver werden. Ich musste nur so was wie eine individuelle Ausgangssperre beachten: von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens zu Hause bleiben, mich einmal die Woche im Jugendamt melden und regelmäßig in die Schule gehen.
    Anderthalb

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