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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Besonderes empfand, kein besonderes Gefühl, rein gar nichts. Ich spürte nur Wut und Müdigkeit, zwei beinahe primitive, tierische Gefühle, aber absolut nichts menschlich Erhebendes.
    Da war Pawel, die anderen prügelten auf ihn ein, er lag am Boden in einer Haltung, die mein Onkel so beschrieben hätte: »Er verwechselte seinen Kopf mit dem Arsch.« Ich betrachtete ihn und dachte, dass es im Leben nichts Sicheres und Verlässliches gab: Dieser menschliche Abschaum, der in diesem Moment wirkte wie ein Stück Fleisch, das dazu bestimmt war, ein Hacksteak zu werden, war sich noch kurz zuvor seiner Stärke gewiss gewesen und hatte die reine Macht in seinen Händen gehalten.
    Als sie mit ihm fertig waren, packten sie ihn in den Kofferraum eines Autos, wie es Gesetz war: Da er nun verseucht war, durfte er nicht mehr denselben Raum mit ehrbaren Kriminellen teilen.
    Ich glaube nicht, dass die fünf Schwachköpfe, die nackt in dem Geländewagen saßen, wussten, was sie erwartete, ich weiß nicht, was ihnen durch den Kopf ging. Ich betrachtete sie, und sie kamen mir völlig abwesend vor, wie auf Droge.
    Das gefiel mir nicht, ich hatte so oft an diesen Augenblick gedacht, hatte mir die Angst in ihren Augen vorgestellt und die Worte, mit denen sie mich anflehen würden, damit ich sie am Leben ließ: »Wir wollen nicht sterben, Erbarmen ...« Und was ich erwidert hätte, eine komplizierte Rede, damit sie verstünden, wie furchtbar ihre Tat war, und sie ihre letzten Augenblicke in absoluter Angst verbrächten, etwas Schreckliches empfänden, das dem gleichkam, was Ksjuscha empfunden hatte. Aber ich sah nur gleichgültige Gesichter, die uns ansahen, als sollten wir uns beeilen und endlich tun, wozu wir gekommen waren. Vielleicht war das aber nur mein Eindruck, denn meine Freunde wirkten aufgeräumt, gingen mit befriedigtem Lächeln auf den Geländewagen zu und zogen demonstrativ ihre Pistolen, luden sie so langsam durch, dass man hörte, wie die Kugeln aus dem Magazin in den Lauf befördert wurden und gegen die Arretierung stießen.
    Ich sah zu Mel: Er ging hinter Gagarin, zwei Pistolen in den Händen, und sein grausiges Gesicht hatte sich zu einer bösartigen Grimasse verzogen.
    Ich holte Großvater Kusjas Nagant hervor und zog mit dem Daumen den Spannabzug zurück. Die Trommel drehte sich und blieb mit einem Klicken stehen. Ich spürte, wie der Abzug sich unter meinem Zeigefinger hob: Er war bereit, gespannt.
    In der anderen Hand hielt ich die Stetschkin, und mit der linkshändigen Ladetechnik, die Großvater Pflaume mir beigebracht hatte, löste ich mit dem Zeigefinger die Sicherung, drückte das hintere Korn gegen den Rand meines Gürtels und spürte, wie der Mechanismus sich bewegte, der feste Teil sich vorschob und die Kugel in den Lauf geladen wurde.
    Als ich mich auf den Geländewagen konzentrierte, um zu entscheiden, auf welchen der Scheißkerle ich als erstes schießen sollte, eröffnete Gagarin ohne Vorwarnung das Feuer aus beiden Pistolen. Sofort, fast gleichzeitig, begannen auch die anderen zu schießen, und ich merkte, dass auch ich schoss.
    Grab feuerte mit geschlossenen Augen, hastig. Er hatte als erster die Magazine seiner Makarows leergeschossen und stand nun da, die Pistolen immer noch auf den Wagen gerichtet, und sah zu, wie all unsere Wut in Form von Kugeln auf die fünf im Innenraum einprasselte.
    Gagarin schoss ruhig und entspannt, ließ die Kugeln selber ihren Weg finden, ohne genau zu zielen.
    Mel ballerte wie eine Artillerieeinheit, imitierte mit seinen Pistolen das Stoßfeuer eines Maschinengewehrs und schickte seine Kugeln in alle Richtungen; was übrigens auch der Grund dafür war, warum es niemand wagte, in einer Schießerei vor ihm zu stehen, niemand außer Gagarin, aber nur, weil er ein Urvertrauen zu Mel hatte, vergleichbar mit einem sechsten Sinn.
    Kater schoss mit solcher Hingabe und Konzentration, dass er nicht bemerkte, dass ihm die Zunge aus dem Mund hing. Er legte sich ins Zeug, gab hundert Prozent.
    Dschigit schoss mit absoluter Präzision, ohne Hast. Er zielte sorgfältig, schoss zwei, drei Mal und nahm dann in aller Ruhe wieder das Ziel ins Visier.
    Teufel feuerte wie ein Revolverheld im WildenWesten, er hielt die Pistolen in Hüfthöhe und schoss mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Er traf zwar nie, aber dafür sah es gut aus.
    Ich schoss, ohne groß nachzudenken, so wie ich es gewohnt war, mit der mazedonischen Technik, die so heißt, weil die antiken Makedonier mit zwei

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