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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schwertern gleichzeitig zu kämpfen verstanden. Ich zielte nicht, ich schoss einfach in den Wagen rein, dorthin, wo die Kerle saßen, ich sah sie sterben, sah ihre letzten Zuckungen, sah, wie sie ihr Leben verloren.
    Plötzlich öffnete einer die Tür und rannte verzweifelt in Richtung Halle, in einen Blechtunnel, einen kleinen Durchgang, durch den Tageslicht einfiel, wie ein beleuchteter Weg bei Nacht. Er lief so schnell, dass wir wie versteinert dastanden.
    Mel schickte ihm ein paar Kugeln hinterher, traf ihn aber nicht. Da ging Gagarin zu einem armenischen Jungen, der eine Kalaschnikow in der Hand hatte, und fragte ihn, ob er »mal kurz« sein Gewehr borgen dürfe. Offensichtlich verängstigt durch das Geschehene, reichte der Junge ihm mit zitternder Hand seine Kalaschnikow.
    Gagarin legte an und gab einen Feuerstoß auf den Fliehenden ab. Der war etwa dreißig Meter weit gekommen, als die Kugeln ihn einholten. Gemächlich ging Gagarin auf ihn zu, wie bei einem Spaziergang im Park. Als er nah genug war, feuerte er eine zweite Salve auf den Körper, der rücklings am Boden lag, noch einmal kurz zuckte und dann still liegenblieb.
    Gagarin packte ihn am Fuß und schleifte ihn zum Wagen, neben die beiden Körper, die schon dort gelegen hatten, bevor das Gemetzel losging.
    Im Wagen befanden sich vier zerfetzte Leichen. Der Geländewagen war voller Löcher, und aus einem Reifen entwich ganz langsam die Luft, weil durch eine derKugeln ein Stück der Karosserie abgesplittert und in den Reifen eingedrungen war. Überall war Blut: Spritzer, Lachen, die sich in einem Umkreis von fünf Metern auf dem Boden ausbreiteten, Tropfen, die aus dem Auto auf die Steine fielen, sich dort mit dem Benzin vermischten und zu kleinen Bächen wurden, die in unsere Richtung flossen, unter unseren Füßen hindurch.
    Es herrschte absolute Stille, keiner der Anwesenden sagte ein Wort, alle betrachteten reglos das, was von den Männern übrig war.

    Wir ließen den Geländewagen und die Leichen an dem Ort, wo wir Gerechtigkeit geübt hatten, und fuhren zum Haus des alten Frunsitsch zurück. Bauch musste fort und verabschiedete sich warm und respektvoll von uns. Wir hätten getan, was getan werden musste, sagte er.
    Frunsitsch meinte, dass sich die Angehörigen des Armeniers, der bei dem Versuch, das Auto aufzuhalten, verletzt worden war, um die Leichen kümmern würden. Das sei eine Art persönliche Genugtuung für sie, wir könnten sicher sein, dass »über diesen Hunden nicht mal ein Kreuz stehen« werde.
    Frunsitsch war nicht fröhlich und zu Späßen aufgelegt wie sonst. Er war ernst, aber auf eine positive Art, als wollte er uns zeigen, dass er einig mit uns war. Er sprach wenig, holte dafür ein paar Flaschen sehr guten armenischen Cognac heraus.
    Während wir schweigend tranken, stieg in mir eine bodenlose Müdigkeit auf.
    Gagarin zog den Beutel mit dem Geld hervor, reichte ihn Frunsitsch und sagte, die Belohnung stehe ihm zu. Frunsitsch stand auf, verschwand in einem anderen Zimmer und kehrte mit einem Bündel Scheine in der Hand zurück, fünftausend Dollar. Er tat sie zu dem Geld im Beutel und sagte:
    »Mehr kann ich nicht geben, ich bin ein bescheidener alter Mann. Gagarin, bring das zu Tante Anfisa und bitte sie im Namen von uns Sündern und schlechten Menschen um Verzeihung.«
    Die dritte Flasche tranken wir wieder schweigend, und als wir den Kaukasus verließen, war es schon dunkel, ich schlief fast im Auto ein. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander, eine Mischung aus Erinnerungen und dumpfen Empfindungen, als hätte ich etwas zurückgelassen, das unvollendet oder schlecht ausgeführt war. Es war ein trauriger Moment für mich, ich empfand überhaupt keine Befriedigung. Ich konnte nicht aufhören, an das zu denken, was Ksjuscha widerfahren war. Unmöglich, dabei Frieden zu empfinden.
    Einige Zeit darauf sprach ich mit Großvater Kusja.
    »Es war richtig, sie für ihre Tat zu bestrafen«, sagte ich. »Aber dadurch haben wir Ksjuscha nicht geholfen. Was mich immer noch quält, ist ihr Schmerz, gegen den unsere Strafaktion nichts hat ausrichten können.«
    Er hörte aufmerksam zu, dann lächelte er mich an und sagte, ich müsse wohl den Weg des älteren Bruders meines Großvaters gehen, allein in den Wäldern leben, in der Natur, weil ich zu menschlich sei, um unter den Menschen zu leben.
    Ich wollte ihm die Nagant wiedergeben, aber er wollte sie nicht zurückhaben und schenkte sie mir.

    Einen knappen Monat später erfuhren wir,

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