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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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machte ich meinen Freunden falsche Tätowierungen, malte ihnen mit Kuli Phantasiebilder auf, die von jenen inspiriert waren, die ich bei den erwachsenen Kriminellen sah.
    Irgendwann fragte mich ein Nachbar, ob ich ihm eine bestimmte Zeichnung anfertigen könnte, die er sich hinterher eintätowieren lassen wollte. Er erklärte mir, wie er sie haben wollte, und ich zeichnete sie aufs Papier. Viele zahlten mir was dafür, nicht viel, zehn Rubel, aber ich fand es schon sensationell, dass sie mir überhaupt etwas zahlten.
    So wurde ich unversehens zu einer kleinen Berühmtheit im Viertel, und der alte Tätowierer, der meine Zeichnungen auf die Haut übertrug, Großvater Lescha, ließ mir ein paar Mal Grüße und Lob ausrichten. Ich freute mich, ich kam mir wichtig vor.
    Als ich zwölf wurde, nahm mein Vater mich beiseite: Ich wäre jetzt schon recht groß, sagte er, und müsste überlegen, was ich aus meinem Leben machen wollte, damit ich mich von den Eltern lösen und unabhängig werden könnte. Von meinen Freunden hatten viele schon unter Führung Erwachsener bei irgendwelchen kriminellen Geschäften mitgemacht, ich selbst hatte mit Onkel Sergej schon ein paar Touren gemacht und mehrfach mit Gold im Rucksack die Grenze überquert.
    Ich antwortete, dass ich Tätowierer werden wollte.
    Also schickte er mich ein paar Tage später zu Großvater Lescha, um ihn zu fragen, ob er mich als Lehrling nähme. Großvater Lescha empfing mich freundlich, bot mir Tee an, blätterte das Heft mit meinen Zeichnungen durch und musterte die Tätowierungen, die ich mir selbst gemacht hatte.
    »Ich gratuliere, du hast ›die ruhige Hand‹«, meinte er. »Weshalb willst du Tätowierer werden?«
    »Ich zeichne gern und möchte unsere Tradition lernen, ich will wissen, wie man Tätowierungen liest ...«
    Er lachte, dann stand er auf und ging aus dem Zimmer. Als er zurückkam, hielt er eine Tätowiernadel in der Hand.
    »Sieh sie dir gut an, mit dieser Nadel tätowiere ich die ehrbaren Leute. Ihr habe ich zu verdanken, dass ich von allen respektiert werde und mein bescheidenes Brot verdienen kann. Ihretwegen habe ich mein halbes Leben im Gefängnis verbracht und mich von den Kötern quälen lassen; außer ihr habe ich nichts im Leben. Geh nach Hause und denk darüber nach. Wenn du dieses Leben wirklich willst, dann komm wieder, ich werde dir alles beibringen, was ich über den Beruf weiß.«
    Die ganze Nacht dachte ich darüber nach. Die Vorstellung, mein halbes Leben im Knast zu sein und von denKötern gefoltert zu werden, gefiel mir nicht, aber angesichts der Alternativen, die mehr oder weniger dasselbe versprachen, beschloss ich, es zu versuchen.
    Am nächsten Tag stand ich wieder vor seiner Tür. Großvater Lescha erklärte mir als erstes, was es heißt, das Handwerk eines Tätowierers zu »erlernen«. Damit er Zeit für mich fand, sollte ich ihm im Haushalt helfen: putzen, einkaufen, holzhacken.
    Und so kam es. Nach und nach brachte Großvater Lescha mir alles bei. Wie man die Stelle fürs Tätowieren vorbereitet, wie man die Zeichnung macht, wie man sie möglichst gut auf die Haut überträgt.
    Er gab mir Hausaufgaben auf: Zum Beispiel musste ich mir eine Methode ausdenken, wie die Bilder sich miteinander verflechten konnten, ohne den Bezug zur Verbrechertradition zu verlieren. Er lehrte mich die Bedeutung der Bilder und ihre Anordnung auf dem Körper, erklärte mir von jedem Ursprung und Entwicklung in der sibirischen Tradition.
    Nach anderthalb Jahren erlaubte er mir, die verblasste Tätowierung eines Kunden aufzufrischen, eines Kriminellen, der gerade aus dem Gefängnis kam. Ich musste nur die Linien nachfahren. Es handelte sich um die misslungene Darstellung eines Wolfs, die Proportionen waren falsch. Ich bot an, die Tätowierung auch in »künstlerischer« Hinsicht ein wenig aufzupolieren. Ich zeichnete ein neues Bild, das das alte problemlos überdeckte, und zeigte es meinem Meister und dem Kunden. Sie waren einverstanden. Ich führte die Tätowierung aus, und sie gelang mir gut: Der Kriminelle war zufrieden und hörte gar nicht mehr auf, sich bei mir zu bedanken.
    Von diesem Tag an ließ mein Meister mich alte und verblasste Tätowierungen nachbessern, und als ich geschickt genug war, erlaubte er mir, mich auch mit neuen Arbeiten zu beschäftigen, auf unberührter Haut.
    Bei meinen Entwürfen bediente ich mich immer müheloser der Symbolik der sibirischen Verbrechertradition. Wenn Großvater Lescha mir neue Aufgaben zuwies, sagte er

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