Sibirische Erziehung
Er war der Sohn einer Moldawierin, die in der Fabrik arbeitete und nichts mit den Kriminellen zu tun hatte. Sie war aber mit einem ukrainischen Kriminellen verheiratet gewesen, der dem Glücksspiel erlegen war und der halben Stadt Geld schuldete. Eines Tages war der Mann ermordet worden, man hatte ihm die Hände abgehackt und ihn in den Fluss geworfen, wo er ertrunken war. Das einzige, was er hinterließ, war sein Sohn Igor.
Igor ähnelte ihm: Er klaute seiner Mutter Geld und verspielte es sofort, er machte die Drecksarbeit für gewisse Kriminelle aus dem Zentrum, die ihn für kleine Gaunereien missbrauchten. Einmal wurde er auf dem Markt erwischt, als er versuchte, der Mutter meines Freundes Mel die Tasche zu stehlen, und als der mit ihm fertig war, war sein Gesicht entstellt, und er hinkte.
Um es kurz zu machen: Irgendwann wurde der Junge von den Polizisten einer ukrainischen Stadt bei dem Versuch geschnappt, eine alte Frau auszurauben, indem er ihr Gewalt androhte. Weil er Angst hatte, im Gefängnis wegen dieser ehrlosen Tat ins Visier der anderen Kriminellen zu geraten, erfand er eine unglaubliche Geschichte: dass er ein wichtiges Mitglied der sibirischen Gemeinschaft sei, dass die Polizisten ihn um jeden Preis hätten einlochen wollen und die Alte mit ihnen unter einer Decke gesteckt habe. Um glaubwürdiger zu erscheinen, machte der Schwachkopf sich in seiner Zelle im Bezirksgefängnis ein paar Tätowierungen. Mit Hilfe eines Stücks Draht und Kulitinte malte er sich irgendwelche sibirischen Bilder auf Finger und Hände, ohne deren Bedeutung zu kennen, kopierte einfach nur, was er an uns gesehen hatte.
Im Knast begann er sofort, sein Lied zu singen, in der Hoffnung, die Zellengenossen würden ihm glauben. Aber da die Leute im Knast Experten in Psychologie sind, schöpften sie sofort Verdacht. Sie kontaktierten die sibirische Gemeinschaft und fragten, ob jemand ihn kenne und etwas über seine Tätowierungen wisse, aber die Antwort war negativ. Daraufhin brachten sie ihn um, erwürgten ihn im Schlaf mit einem Handtuch.
Sich die Tätowierung eines anderen zulegen ist in der sibirischen Tradition ein todeswürdiges Vergehen. Das gilt aber nur für existierende Tätowierungen, die schon jemand trägt und die eine persönliche kodifizierte Information darstellen. Etwas anderes ist es, wenn Fremde sich traditionelle Motive tätowieren lassen, das gilt als eine Art Talisman. Viele, die Geschäfte mit sibirischen Kriminellen machen, Freunde und Unterstützer, dürfen traditionelle Tätowierungen tragen, solange sie einen sibirischen Tätowierer damit beauftragen, einen Fachmann.
Die Beziehung zwischen Tätowierer und Kunde ist komplex und verlangt eine gesonderte Erläuterung.
Über das Tätowieren, das Erfinden neuer Motive und die Fähigkeit sie zu lesen hinaus muss der Tätowierer bestimmte Regeln befolgen, er muss wissen, wie er sich zu verhalten hat. Der Prozess der Beauftragung einer Arbeit ist langwierig. Bevor ein Krimineller eine Tätowierung »erleiden« darf, muss er von einem Freund eingeführt werden, der für ihn bürgt: Nur unter dieser Voraussetzung darf der Tätowierer eine Arbeit annehmen.
Der Tätowierer darf einen Kunden nur zurückweisen, wenn er einen begründeten Verdacht gegen ihn hegt. In diesem Fall hat er das Recht, von dem Kriminellen zu verlangen, dass er über persönliche Kontakte eine anerkannte Autorität in der sibirischen Verbrechergesellschaft anspricht, die ihm offiziell erlaubt, sich tätowieren zu lassen. Dabei muss der Tätowierer darauf achten, dass er höflich bleibt und niemanden beleidigt; er darf nicht von Verdacht reden, er darf lediglich um einen Gefallen bitten: nämlich darum, einer alten Autorität »eine Nachricht zu überbringen«. Der Kriminelle wiederum, wenn er mit Hilfe von Freunden bis zu dieser Autorität vorgedrungen ist, darf nie rundheraus sagen: »Ich will mich tätowieren lassen«, sondern lediglich: »Der Tätowierer Sowieso bittet Sie, ihm über mich Ihre Grüße ausrichten zu lassen.« Der Alte gibt ihm dann einen Brief mit oder schickt einen seiner Leute mit.
Ansonsten darf der Tätowierer einen Auftrag nur noch im Trauerfall oder wegen einer schweren Erkrankung ablehnen. Der Kriminelle seinerseits kann dem Tätowierer keinen Zeitplan aufzwingen: Eine große Tätowierung muss daher häufig auch mal Jahre warten.
Auch die Bezahlung folgt einem Ritual. Ehrbare Kriminelle sprechen nie über Geld, das wäre unter ihrer Würde. Die Sibirer begegnen
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