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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mir nun nicht mehr, wie die Bilder sein sollten, sondern erklärte mir nur die eigentliche, kodifizierte Bedeutung. Kurz: Die Symbolik spielte bei der Erschaffung der Bilder die gleiche Rolle wie die Buchstaben des Alphabets, mit denen man eine Geschichte niederschreibt.
    Ich lernte viele Leute mit besonderen Tätowierungen kennen, hinter denen sich interessante Geschichten verbargen. Wenn sie zu meinem Meister kamen, zeigte er mir die Tätowierungen und erklärte mir die Bedeutung. Es waren sogenannte »Unterschriften«, wie die Kriminellen sie nennen: Tätowierungen mit einer bestimmten Bedeutung, entweder das Symbol einer alten und mächtigen kriminellen Autorität oder direkt der Name. Diese Unterschriften sind wie ein Passierschein, sie verhindern, dass ein Mann an einem Ort fern der Heimat unfreundlich empfangen wird, vielleicht aus Misstrauen oder weil er nur wenige Bekannte in der Verbrechergesellschaft hat. Gewöhnlich werden diese Tätowierungen auf besondere Weise ausgeführt, es gibt eine bestimmte Technik, sie einmalig werden zu lassen, ohne dass man ihre Bedeutung direkt mit dem Namen oder Beinamen des Trägers verbindet: Es kommt darauf an, die Eigenschaften und Besonderheiten des Körpers zu berücksichtigen und sie mit den Bedeutungen der bereits vorhandenen Tätowierungen zu verknüpfen. Unterschriften habe ich auf vielen Körpern gesehen, und jedes Mal habe ich andere Wege entdeckt, wie die Motive vermischt wurden, um daraus etwas Einmaliges zu schaffen.

    Einmal war ich zu Hause, als ein Junge angelaufen kam und sagte, ich solle mitkommen, mein Meister wolle mir was zeigen. Ich ging mit ihm.
    Bei Großvater Lescha waren ungefähr zehn Leute versammelt, ein paar aus unserem Viertel, andere sah ich zum ersten Mal, Kriminelle, die von weit her kamen, aus Sibirien. Sie saßen um einen Tisch und unterhielten sich. Mein Meister stellte mich vor:
    »Der Barfuß hier möchte lernen, wie man ein großer Kolschik 1 wird. Ich bringe ihm alles bei, hoffen wir, dass er eines Tages mit Gottes Hilfe wirklich einer wird.«
    Ein kräftiger Mann erhob sich, er hatte einen langen Bart und mehrere Tätowierungen im Gesicht, die ich sofort las: Er war ein zum Tode Verurteilter, der im letzten Augenblick begnadigt worden war.
    »Dann bist du also Jurijs Sohn?«
    »Ja, ich bin Nicolai ›Kolima‹, Sohn von Jurij ›Wurzellos‹«, antwortete ich mit fester Stimme.
    Der Kriminelle lächelte und legte mir seine riesige Hand auf den Kopf:
    »Nachher werde ich deinem Vater einen Besuch abstatten, wir sind alte Freunde, als junge Männer waren wir im Knast mal in derselben Familie ...«
    Mein Meister klopfte mir auf den Rücken:
    »Komm mit, ich will dir was zeigen, das du erkennen musst, wenn du ein guter Tätowierer werden willst ...«
    Wir durchquerten das Zimmer und gingen durch die Hintertür in den kleinen Garten, wo ein paar Obstbäume standen. Wir betraten einen Geräteschuppen aus Holz und rostigem Blech. Mein Meister zündete eine Lampe an, die in Höhe meiner Augen von der Decke hing.
    Auf dem Boden lag etwas, das mit einer groben Stoffbahn bedeckt war: etwas Großes. Mein Meister zog die Stoffbahn weg: Darunter lag ein toter Mann, nackt, keineStichwunden, kein Blut, nur ein großes schwarzes Mal am Hals.
    Erdrosselt, dachte ich.
    Die Haut war sehr weiß, fast wie Papier, er musste schon ein paar Stunden tot sein. Das Gesicht war entspannt, der Mund leicht geöffnet, die Lippen lila.
    »Sieh her, Kolima, sieh genau hin«, sagte Großvater Lescha. Er bückte sich und drehte den rechten Arm der Leiche zu mir hin, damit ich die Tätowierung darauf sehen konnte.
    »Na, was meinst du? Was ist das für eine Tätowierung?«
    Seine Stimme hatte etwas Geheimnisvolles, als wäre der Moment gekommen, ihm zu zeigen, was ich bei ihm gelernt hatte.
    Unwillkürlich begann ich die Tätowierung mit lauter Stimme zu analysieren und meine Schlüsse zu ziehen. Er hörte mir geduldig zu, während er mir noch immer den Arm der Leiche hinhielt.
    »Es ist die Unterschrift einer sibirischen Autorität mit dem Beinamen ›Tungus‹. Sie wurde 1989 im Sondergefängnis Nummer 36 in der Stadt Ilin in Sibirien gemacht. Da ist auch ein Segen für den, der sie liest, ein eindeutiges Zeichen, dass der Tätowierer ein sibirischer Urka war ...«
    »Das ist alles? Mehr ist dir nicht aufgefallen?«, fragte mein Meister kritisch.
    »Hm, die Tätowierung ist in Ordnung: ordentlich ausgeführt, deutlich lesbar, klassische, klare Komposition der Motive

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