Sibirische Erziehung
... Obwohl ...«
Ja, es gab ein Obwohl.
»Es ist die einzige Tätowierung am ganzen Körper«, fuhr ich fort. »Trotzdem sind in dem Bild Bezüge auf andere Tätowierungen, die hier fehlen ... Sie wurde 1989 gemacht, scheint aber erst seit wenigen Monaten verheilt,sie ist noch zu schwarz, das Pigment hat noch keine Zeit gehabt, auszubleichen ... Und die Stelle ist auch seltsam, normalerweise macht man auf dem Arm ›Farben‹ oder ›Flügel‹ 2 , Unterschriften werden meist an die großen Tätowierungen angehängt, sie sind eine Art Brücke zwischen zwei Tätowierungen. Sie befinden sich auf dem Unterarm, an der Innenseite, seltener gleich über dem Fuß, am Knöchel ...«
»Und weshalb werden sie dort angebracht?«, unterbrach mich der Meister.
»Weil es darauf ankommt, dass die Tätowierung an einer Stelle sitzt, die man in jeder Situation zeigen kann, hier die sitzt aber an einer etwas unbequemen Stelle ...«
Ich hielt einen Augenblick inne. In meinem kleinen Kopf ratterte es, und schließlich sah ich meinen Meister mit aufgerissenen Augen an:
»Das glaube ich nicht, sagt, dass das nicht wahr ist, Großvater Lescha ... Das ist doch nicht etwa ein ...« Ich unterbrach mich erneut, weil ich das Wort einfach nicht aussprechen konnte.
»Ja, mein Junge, der Kerl da ist ein Köter. Sieh ihn dir genau an, wer weiß, vielleicht wirst du in deinem Leben noch mal einem begegnen, der sich als einer der unsern ausgibt, und dann wirst du keine Zeit zum Nachdenken haben, du musst dir hundertprozentig sicher sein und ihn sofort erkennen. Der hier muss irgendwie herausgefunden haben, dass einer von uns eine solche Unterschrift trug, und hat sie kopiert, ohne zu wissen, was eine Unterschrift wirklich ist, wie sie aussieht und wie sie gelesen und übersetzt wird ... Er hat den Tod gefunden, weil er zu dumm war.«
Ich war weder von dem Körper des erdrosselten Polizisten beeindruckt noch von der Geschichte mit der Tätowierung, die er von einem Kriminellen abgekupfert hatte. In diesem Augenblick fand ich nur eins merkwürdig, unnatürlich und jenseits meines Verständnisses der Welt: diesen leeren Körper ohne Tätowierungen. Das schien mir unmöglich, ich empfand das fast wie eine Krankheit. Von klein auf war ich immer von tätowierten Menschen umgeben und empfand das als völlig normal. Einen Körper ohne Tätowierungen zu sehen, hatte eine seltsame Wirkung auf mich: ein körperliches Leiden, eine Art Mitleid.
Mein eigener Körper löste die gleiche Empfindung aus, weil ich ihn als zu leer empfand.
Ich übte weiter mit den Tätowierungen, die ich sah, und erfuhr dadurch eine Menge über die Menschen, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte.
»Du, Onkel Ignat, als junger Mann hast du doch mal lebenslänglich gekriegt und bist dann begnadigt worden, stimmt’s?«
Aber mein Vater scheuchte mich jedes Mal davon, wenn ich die Leute mit Fragen bestürmte:
»Darüber redet man nicht, Kolima, lass deine Experimente, frag unsere Gäste nicht aus ... Wenn du dir nicht sicher bist, ob es stimmt, was du auf einem Menschen liest, dann lerne mehr!«
Jemanden über seine Vorstrafen zu befragen, über seine »Spuren auf dem Wasser«, galt bei uns als ungezogen. Ich war so von meiner neuen Leidenschaft besessen, dass ich mich nicht bremsen konnte.
Die einzelnen Tätowierungen werden nicht irgendwann, sondern in ganz bestimmten Lebensphasen angebracht. Man kann sich nicht gleich alle, die einem gefallen, auf einmal machen lassen, es gibt ein genaues Schema.
Lässt sich ein Krimineller eine Tätowierung, die keine reale Information über ihn enthält, oder eine Tätowierung vor der Zeit machen, dann wird er streng bestraft, und die Tätowierung muss von der Haut entfernt werden.
In Sibirien heißt es, Tätowierungen muss man »erleiden«. Wer etwas Besonderes erlebt hat, erzählt davon mit Hilfe seiner Tätowierungen, als wären sie ein Tagebuch. Da das Verbrecherleben hart ist, sagt man nicht, dass man sich eine Tätowierung hat »machen lassen«, sondern dass man sie »erlitten« hat.
Von Leuten mit neuen Tätowierungen hört man oft:
»Schau, ich habe wieder eine Tätowierung erlitten«, und das bezieht sich nicht auf den körperlichen Schmerz, den man beim Tätowieren spürt, sondern auf die Bedeutung dieser speziellen Tätowierung und auf das schwere Leben, das sich dahinter verbirgt.
Ich kannte mal einen Jungen, der Igor hieß und nichts als Mist baute, viele hielten ihn für einen Hitzkopf und lehnten sein Treiben ab.
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