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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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aufsteigt und das Weibchen hört, wie ihr Partner mit den Flügeln schlägt und in der Luft Kapriolen macht, dann fliegt sie ihm entgegen, hinunter. Unsere Taube war schon sehr weit weg.
    »Los, Kolima, jetzt!«, rief Großvater Kusja, und mit einer eingeübten Bewegung warf ich den Täuberich kraftvoll in die Luft.
    »Gut gemacht, Söhnchen, der Herr segne dich!« Großvater Kusja war zufrieden. Gemeinsam beobachteten wir,wie die Tauben sich in der Luft annäherten und auf spektakuläre Weise zusammentrafen: Der Täuberich überschlug sich zwanzig Mal und mehr, während die Taube immer engere Kreise um ihn flog, bis sie ihn fast mit den Flügeln berührte. Ein wunderschönes Pärchen.
    Schließlich begannen die beiden Seite an Seite in weiten Kreisen den Landeanflug. Großvater Kusja sah mich an und deutete auf den blauen Fleck in meinem Gesicht.
    »Komm, wir machen uns einen Tschifir ...« Wir stiegen vom Dach herunter und gingen in die Küche. Großvater Kusja setzte Wasser für den Tschifir auf.

    »Tschifir« ist ein sehr starker Tee, der nach altem Ritual zubereitet und getrunken wird. Er hat eine stark anregende Wirkung: Eine Tasse Tschifir regt genauso an wie ein halber Liter Kaffee auf einmal. Für die Zubereitung benutzt man einen kleinen Topf, den Tschifirbak, der für nichts anderes verwendet wird und nie mit Spülmittel gereinigt, sondern nur kalt ausgespült werden darf. Je schwärzer mit Teeresten verschmutzt der Tschifirbak ist, desto mehr wird er geschätzt, weil der Tschifir entsprechend besser wird. Sobald das Wasser kocht, dreht man das Feuer herunter und gibt ganze, nicht zerkleinerte schwarze Teeblätter hinein, die unbedingt aus Irkutsk in Sibirien kommen müssen: Der besondere Tee von dort ist der stärkste und aromatischste überhaupt und bei den Kriminellen im ganzen Land beliebt. Er unterscheidet sich sehr von dem berühmten Tee aus Krasnodar, den die Hausfrau liebt: ein schwacher Tee, der besonders in Moskau und Südrussland verbreitet ist und sich gut fürs Frühstück eignet. Für einen echten Tschifir braucht man bis zu einem halben Kilo Teeblätter. Die Blätter dürfen nicht länger als zehn Minuten ziehen, sonst wird der Tschifir bitter und schlecht. Damit kein Dampf entweicht, wird derTopf mit einem Deckel verschlossen; es ist ratsam, das Ganze mit einem Handtuch zu umwickeln, damit der Tee nicht zu schnell abkühlt. Der Tschifir ist fertig, wenn keine Blätter mehr an der Oberfläche schwimmen: Deshalb sagt man auch, der Tschifir ist »gefallen«. Der Sud wird durch ein Sieb gegossen: Die Teeblätter werden aber nicht weggeworfen, sondern zum Trocknen auf einen Teller gelegt und später verwendet, um »normalen« Tee zu machen, der mit Zucker und Zitrone zu einem Stück Kuchen getrunken wird.
    Tschifir wird aus einem großen Eisen- oder Silberbecher getrunken, der mehr als einen Liter Tee fasst und Wodjaga heißt, was in der alten sibirischen Verbrechersprache so viel bedeutet wie Feldflasche. Man trinkt in der Gruppe und reicht den Becher immer im Uhrzeigersinn weiter, nie dagegen; man trinkt drei Schlucke, keinen mehr und keinen weniger. Dabei darf man weder reden noch rauchen, essen oder sonst etwas tun. Wer in den Becher bläst, beweist schlechte Manieren. Zuerst trinkt der, der den Tschifir zubereitet hat, dann wird der Becher an die anderen weitergereicht, und wer die letzten Schlucke nimmt, muss aufstehen, den Becher ausspülen und an seinen Platz zurückstellen. Erst dann darf geredet, eine Zigarette geraucht, ein Stück Kuchen gegessen werden.
    Diese Regeln sind nicht in allen Gemeinschaften gleich: In Zentralrussland zum Beispiel nimmt man nicht drei Schlucke, sondern nur zwei, und in den Becher zu blasen gilt hier als höfliche Geste gegenüber dem, der als nächster von dem kochendheißen Getränk trinkt. Aber immer ist es ein Zeichen des Respekts und der Freundschaft, einen Tschifir anzubieten.
    Am besten gelingt der Tschifir, wenn er auf einem offenen Holzfeuer zubereitet wird: Deshalb gibt es in vielen Kriminellenhaushalten im Kamin eine Vorrichtung, dienur dafür da ist, Tschifir zu kochen; fehlt sie, benutzt man den Herd, nie jedoch eine Gasflamme.
    In Sibirien trinkt man den Tschifir sofort ganz aus: Kühlt er ab, wird er nicht wieder aufgewärmt, sondern weggeschüttet. Anderswo, vor allem im Gefängnis, darf der Tschifir aufgewärmt werden, allerdings nicht mehr als einmal. Aufgewärmter Tschifir heißt auch nicht mehr so, sondern Tschifirok : ein Diminutiv, im

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