Sibirische Erziehung
wahrsten Sinne des Wortes.
Wir tranken den Tschifir schweigend, wie es Brauch war, und erst als wir fertig waren, begann Großvater Kusja zu sprechen:
»Und, wie geht es, Barfuß?«
»Gut, Großvater Kusja, nur dass es vor ein paar Tagen in Tiraspol Stunk gab und die Köter uns ganz schön in die Mangel genommen haben ...« Ich wollte aufrichtig sein, aber auch nicht übertreiben. Vor einem Menschen wie Großvater Kusja musste ich über das, was in meinem Leben passierte, nicht weinen oder mich damit brüsten: Er hatte mit Sicherheit Schlimmeres durchgemacht.
»Ich kenne das, Kolima ... Aber du bist am Leben, sie haben dich nicht umgebracht. Also, warum bist du so niedergeschlagen?«
»Sie haben mir die Pika abgenommen, die Onkel Igel mir geschenkt hat ...« Als ich diese Worte aussprach, kam ich mir vor wie auf meiner eigenen Beerdigung. Alles wurde noch schrecklicher, es brach mir das Herz, während ich davon erzählte.
Wenn ich mir vorstelle, was für ein Gesicht ich in diesem Moment machte, muss ich lachen. Wie Großvater Kusja, der sagte:
»Aber nur weil die Köter dir die Pika abgenommen haben, musst du doch nicht wie ein Trauerkloß rumlaufen!Du weißt doch, alles was passiert, liegt in den Händen Gottes und ist Teil Seines großen Plans. Vergiss nicht: Unsere Pikas sind mächtig, weil ihnen die Kraft des Herrn innewohnt. Aber wenn jemand unsere Pika an sich nimmt und sie ehrlos benutzt, so wird sie ihn ins Verderben reißen, weil die Kraft des Herrn den Feind vernichten wird. Wieso also solltest du weinen? Es ist doch gut, was passiert ist: Deine Pika wird einem Köter viel Unglück bringen und ihn schließlich töten. Und danach wird ein anderer sie an sich nehmen und danach ein Dritter, und deine Pika wird sie alle töten ...«
Großvater Kusjas Erläuterungen verschafften mir ein wenig Erleichterung: Meine Pika würde also Unheil unter den Kötern anrichten, gut. Aber sie fehlte mir trotzdem.
Ich wollte ihn nicht enttäuschen und vor ihm losheulen, deshalb hob ich die Stimme und sagte so fröhlich es ging:
»Dann bin ich ja froh ...«
Großvater Kusja lächelte:
»So ist’s recht, so will ich dich sehen: Brust raus, Bauch rein ...«
Eine Woche später besuchte ich Großvater Kusja wieder, diesmal mit einer Dose Butter-Kaviarpastete und im Gepäck. Er rief mich ins Wohnzimmer und stellte mich vor den roten Winkel mit den Ikonen. Dort, auf der Ablage, lag eine wunderschöne geöffnete Pika mit fein gearbeiteter Klinge und Horngriff. Wie hypnotisiert starrte ich sie an.
»Ich habe sie direkt aus Sibirien kommen lassen, unsere Brüder haben sie mitgebracht. Sie ist ein Geschenk, für einen jungen Freund von mir ...« Er nahm die Pika und drückte sie mir in die Hand. »Nimm, Kolima, und denk dran: Alles was zählt, ist das, was in dir ist.«
Zum zweiten Mal war ich glücklicher Besitzer einer Pika geworden: Ich kam mir vor, als hätte ich ein zweites Leben geschenkt bekommen.
Abends schrieb ich die Worte, die Großvater Kusja zu mir gesagt hatte, schön groß auf ein Blatt Papier und hängte es in meinem Zimmer auf, neben den Ikonen. Als mein Onkel es entdeckte, sah er mich fragend an. Ich machte eine Handbewegung, wie um zu sagen: »Genau so ist es.« Er lächelte und sagte:
»Jetzt haben wir sogar einen Philosophen in der Familie!«
1 Lena und Amur sind die Namen zweier großer sibirischer Flüsse. Traditionell ist das Schicksal unserer Kriminellen mit diesen Flüssen verbunden: Sie werden angebetet wie Götter, denen manopfert und die man vor Verübung von kriminellen Taten um Beistand bitten muss. Sie werden in zahlreichen Redensarten, Fabeln, Liedern und Gedichten erwähnt. Über einen vom Glück begünstigten Verbrecher sagt man, »sein Schicksal wird von der Strömung der Lena getragen«.
2 In diesem Buch wird statt der korrekten russischen Transliteration »Nikolaj« die Schreibweise »Nicolai« beibehalten, weil es die ist, die der Autor im Alltag benutzt und die auch in seinen italienischen Papieren steht. (Anm. d. Redaktion)
3 »Tschornaja mast« (wörtlich: die Schwarze Farbe, womit eine Farbe im Kartenspiel gemeint ist) war und ist eine der mit Spielfarben markierten Kasten im (Post-)GULAG-System, nämlich die höchste: die der Blatnye, die unter den Häftlingen die reale Macht ausübten. (Anmerkung des Übersetzers)
4 Bajonettmesser, das beim Entern der Flussschiffe benutzt wurde.
5 »Polierte«: anderes Wort für Stiefel.
6 Weiß-blau gestreiftes Matrosenhemd mit
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